Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
Nachtsicht gerät zurück in die Tasche und drückte dann gegen die Verriegelung; er wusste, dass die Drähte, die zur Alarmanlage führten, schon vor langem durchtrennt worden waren.
Aus dem strömenden Regen schlug ihm ein nach Fäulnis riechender Wind ins Gesicht. Er zog sich die Kapuze über und ging die 45th Street hinunter. Noch immer waren die Straßen voller Autos, die in den Kämpfen zerstört oder aufgegeben worden waren, so dass sich die Versorgungsfahrzeuge der Vampire und der Stoneheart-Angestellten mühsam einen Weg bahnen mussten. Eph hielt den Kopf gesenkt und sah zu, wie seine Füße das Wasser in den Pfützen aufwirbelten. Trotzdem achtete er aufmerksam auf das, was rechts und links von ihm geschah. Er hatte es sich angewöhnt, sich nicht zu offensichtlich umzusehen, wenn er durch die Straßen New Yorks ging – es gab zu viele Fenster, zu viele Vampiraugen. Und wenn man verdächtig aussah, war man auch verdächtig.
Mit schnellen Schritten ging er hinüber zur First Avenue und dann auf das türkisgrüne Gebäude der New Yorker Gerichtsmedizin zu, das zwischen dem Bellevue Hospital und dem University Medical Center lag. Durch die halb offen stehende Krankenwagen-Zufahrt gelangte er ins Innere und betrat, vorbei an etlichen Bahren und Rollschränken, die zu Barrikaden umfunktioniert worden waren, schließlich den Obduktionssaal.
Dort blieb er für einen Moment regungslos stehen. Lauschte. Hierher, in diesen Raum mit den stählernen Autopsietischen und unzähligen Waschbecken, waren vor zwei Jahren die Passagiere des Regis Air Flug 753 gebracht worden. Hier hatte Eph die nadelartigen Einstiche am Hals der – auf den ersten Blick – toten Passagiere entdeckt, die Haut und Muskeln perforiert hatten und bis zur Halsschlagader reichten. Hier hatte ihm einer der Pathologen die rätselhafte Gewebevergrößerung im Rachenraum der Leichen gezeigt, die sich als frühes Stadium der Ausbildung des Vampirstachels erweisen sollte. Hier hatte er erstmals beobachtet, wie sich das normale rote Blut eines Menschen in das ölige Weiß des Vampirbluts verwandelte … Und hier, vor diesem Gebäude, waren Nora und er jenem obskuren alten Pfandleiher begegnet: Abraham Setrakian, der Eph all sein Wissen über die Vampire weitergeben sollte – von der Kraft des Silbers und des ultravioletten Lichts über die Rolle der »Alten« in der Geschichte der menschlichen Zivilisation bis hin zum gefährlichsten aller Vampire, dem »Meister«, der sich von seinen Brüdern losgesagt hatte und mit dessen Ankunft in der Neuen Welt an Bord von Flug 753 das Ende begonnen hatte.
Seit der Machtübernahme der strigoi stand das Gebäude der New Yorker Gerichtsmedizin leer. Eine Stadt, die von Vampiren regiert wurde, benötigte keine Pathologie – der Tod war nicht mehr das unausweichliche Ende der menschlichen Existenz, und es bestand keine Notwendigkeit, all die Rituale wie Trauer, Leichenwaschung oder Beerdingung, die das Ableben eines Menschen mit sich gebracht hatten, noch einzuhalten. Eph hatte sich diesen Umstand zunutze gemacht und das Gebäude zu seiner inoffiziellen Kommandozentrale erklärt.
Nach einigen Minuten schüttelte er die Gedanken an die Vergangenheit ab, verließ den Obduktionssaal wieder und ging die Treppe hinauf, wobei er sich innerlich auf eine von Noras Standpauken vorbereitete. Dass seine Verzweiflung über Zacks Entführung ihre Widerstandsaktivitäten mehr und mehr beeinträchtigte … Dr. Nora Martinez war Ephs Stellvertreterin beim Canary-Projekt der CDC gewesen, und in dem Chaos und Grauen, das die Vampirseuche mit sich gebracht hatte, hatten sie ihre tiefe Zuneigung füreinander entdeckt. Er hatte versucht, sie und Zack aus der Stadt zu schaffen, als von der Penn Station noch Züge abgefahren waren, doch dann war sein schlimmster Alptraum wahr geworden: Eine Horde strigoi , angeführt von Kelly Goodweather, brachte den Zug im Tunnel unter dem Hudson zum Entgleisen und richtete unter den Passagieren ein Massaker an. Und Nora konnte nicht verhindern, dass Zack Kelly in die Hände fiel.
Auch wenn Eph Nora in keiner Weise für Zacks Entfüh rung verantwortlich machte, so hatte diese Tatsache dennoch einen Keil zwischen sie getrieben – ja, der Verlust seines Sohnes hatte einen Keil zwischen Eph und den Rest der Welt getrieben. Es fühlte sich an, als wäre sein früheres Selbst in tausend Splitter zerbrochen – und dieser kümmerliche Rest seiner Persönlichkeit war alles, was er Nora anzubieten
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