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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Großen Antimago.« Er lachte leise, hob sein Glas vorsichtig auf und trank es, wiederum ohne abzusetzen, leer. »Wenn Sie sich nicht ranhalten, haben Sie nichts mehr von der Flasche … Aber wir werden uns eine zweite erlauben, wer soll uns hindern! Wissen Sie, wie ich die Leute einäugig gemacht habe? Es war geradezu lächerlich einfach, ein bisschen Chemie, der Stromstoß des Auslösers und die Energie des Lichts – da standen sie dann vor dem Tempel von Abu Simbel und wollten ihn ablichten, und Bumm , und blind! Zwei Jahre haben die Weltkonzerne gebraucht, um ihre Filmdöschen und digitalen Speicherkarten und Chips wieder sicher zu machen! Ich hatte keinen Spaß daran, es war eine blutige Sauerei, aber Reeper wusste besser als wir, was nötig war, um die Welt zu retten – und ich liebte ihn! Mein Gott, hab ich diesen Mann geliebt! Sie hätten ihn hören sollen, wenn er donnerte: ›Jedes Foto stiehlt Realität! Mit jedem Abbild wird unsere Wirklichkeit geringer und schwächer! Jedes raubt das Gesicht einer Landschaft! Stoppt die Diebe! Und wenn ihr sie töten müsst!‹ Es ging ja nicht um die paar tausend Menschenleben. Es ging um mehr. Es ging um alles. Nicht um Sie oder mich. Um das Ganze , verstehen Sie?«
    Sie kennen das vielleicht, lieber Freund. Man sitzt einem Menschen gegenüber, der mit der Suada seiner Wörter sein Gegenüber zu fesseln versucht, weil er Gesellschaft braucht zur Legitimierung der Trunksucht. Man kann da nur hoffen, dass der Rausch schnell die Redefertigkeit überwuchert und hinüberführt in die fernen, dem nüchternen Zuhörer unzugänglichen Gärten der Säuferwelt. Ich ließ Stieftaal also reden und trinken, bis ihm die Sätze zerfielen und die Zunge sich um die Wörter rollte, und am Boden der dritten Flasche war er zu weit in sich eingekehrt, um meinem Aufbruch noch Widerstand entgegensetzen zu können. Immerhin bemerkte er, dass ich gegangen war, »Gehen Sie nur!« hörte ich ihn aus der Küche hinter mir her zetern, als ich schon im Treppenhaus stand. »Gehen Sie doch, wenn Sie nicht mal ein Glas Wein vertragen!«
    In der hohen Halle – ich nahm dunkelblaue Teppiche wahr, bunte, bis zur ersten Etage reichende Glasfenster, die eine breite, in zwei Kehren gewinkelte und fast schwarze Eichentreppe begleiteten – fand ich die Eingangstür, trat ins Freie, geblendet lief ich zur Anlegestelle hinunter, ohne zu bedenken, dass ich Mühe haben würde, den Fährkahn mit dem Stangenruder am Heck ans andere Ufer zu steuern. Nach einigen unbeabsichtigten Kurven und halb vollendeten Kreisen auf dem Wasser gelang mir eine wenn auch verschnörkelte Fahrlinie, die auf den Ufersteg wies. Meine mangelnde Übung erforderte, dass ich mit jedem Schub gegen das Ruder mein Gleichgewicht wahren und lernen musste, den Gegenschlag nicht zu heftig auszuführen. Aber auf halber Strecke schon gewann ich das Gefühl, ein geschickter Lehrling zu sein, der vielleicht als Geselle anlanden würde. Nun erst bedachte ich, dass Stieftaal, der Nichtschwimmer, auf seiner Insel abgeschnitten war. Umzukehren schien mir falsch, ich tröstete mich mit der Hoffnung, dass er gewiss noch ein zweites Boot an anderer Stelle der Insel liegen hätte, und richtete meinen Blick wieder fest auf das Ufer. Dort reichte der Schatten des Waldes schon auf das Wasser hinaus. Ich entdeckte eine Gestalt auf dem Steg, eine Frau in fußlangem, dunklem Mantel, nicht groß, schmal, von zwei Taschen oder Körben wie eingekeilt oder zwischen ihnen festgesteckt. Sie stand bewegungslos, als sei sie eine starre Figur. Sofort wollte ich weniger stümperhaft, wenn nicht gar elegant, den Kahn an Land steuern. Tatsächlich gelang es mir nicht schlecht, ich setzte den Fuß auf die Planken, stand einen Augenblick in schwankendem Spagat, bis der Kahn ruhig lag und ich, das Bugseil in der Hand, festen Boden gewann. Die Frau drehte ein wenig den Kopf, so als blicke sie an mir vorbei und wende mir ihr Ohr zu. Ich fragte, ob sie zur Insel wolle, und sie zuckte zusammen. Ich wiederholte meine Frage. »Warum kommt Hans nicht?« fragte sie. Ich antwortete, er sei zu müde. Sie lächelte. »Manchmal trinkt er wirklich zu viel. Wenn Sie mir helfen würden, das Gepäck einzuladen, ich kann schon selber hinüber.« Die schwere Tasche und einen Korb voller Gemüse hatte ich in den Kahn gestellt, als sie ihre Hand nach mir ausstreckte und ihr Gesicht mir plötzlich nah war: blass, durchscheinend, es schien mir nicht jung, nicht alt, die wirren Locken, irisches

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