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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Gang, an den Wand-Rehen, Wand-Uhus, Wand-Füchsen vorbei zur Treppe, jagte, stolperte hinunter in die Bar, eine Flasche Grappa zu besorgen, erhielt sie sofort, wortlos schob der Keeper sie über den Tresen, er kannte seine natursüchtigen Gäste, die nachts in ihrer Zimmertapete wandern wollten, ich unterschrieb den Revers, neben mir kicherten ein dünner Herr in grauem Trainingsanzug und eine von Gold klingelnde Sechzigerin, die ihr wogendes Fleisch unter roten Seidenschals mehr zur Schau stellte als verbarg. Ich sah, als mir die Flasche aus der Hand glitt und ich sie mit der anderen so geschickt aus der Luft fing, wie es mir nur im Rausch gelingt, das Goldreif-Handgelenk am Gummibund der Trainingshose, die Hand schon versenkt, schob mich vom Barhocker, lief in einer hastig genommenen Kurve nach draußen. Die Sehnsucht nach den blühenden Matten ließ mich die Treppen schnell nehmen, mit einem Mal war ich wieder mitten zwischen Löwenzahn, Schlüsselblume, wilder Hyazinthe und Maiglöckchen, setzte die Flasche an, warf sie, vielleicht war sie leer, hinter mich auf das Bett, stand auf, leicht wie ehedem, und lief die ganze Nacht auf die Berge zu, unter dem Buchenlicht, heiter, begleitet von dem Gezeter der Vögel, Hänge hinauf, Täler hinab, Schmetterlinge tupften blutrot und golden das Licht, und schließlich sah ich mein Ziel: Auf dem höchsten Gipfel stand die kleine Mantelsoldatin, die Anna gerufen wurde, frei unter der Sonne, in einem Kahn, der sich, Wunder des Traums, auf der Spitze des Berges im Gleichgewicht hielt wie die Kompassnadel auf ihrem Kegel, und der Kahn drehte sich langsam, als gäbe es keinen Norden mehr, unaufhörlich und ruhig, während ich über die Baumgrenze zu Anna hinaufstieg. Oh Anna im Kahn, sang ich leise, wie schön drehst du dich auf dem Gipfel des Berges! Fast fuhr mir der Bug ihrer Arche schon über die Stirn, da sah ich ihr Gesicht vorbeikreisen, sah ihre weit geöffneten Augen – und erschrak. Unter all dem Licht waren ihre Augen zwei Schatten-höhlen, in denen matt wie Kohle eine unstillbare Trauer lag. Ich fand mich wieder auf dem Teppichboden vor der Fototapete. Ich kroch zu meinem Bett, krümmte mich dort unter die Decke. Den folgenden Tag verschlief ich.
    Was sich in den Tagen und Wochen darauf ereignete, kann ich Ihnen zwar schildern, doch der Sinn wird sich ihnen nur erschließen können, wenn wir zuvor die Geschichte (und, so seltsam dies klingen mag: auch die Gegenwart) des Antimago bedacht und rekapituliert haben. Mich beunruhigt mehr als ich bisher zugab, dass Sie mir versichert haben, sich nicht daran erinnern zu können. lmmerhin war seinerzeit die Weltpresse voll von Vermutungen und Urteilen, Forderungen an die Behörden und Kommentaren zur antimagistischen Ideologie. Nicht einmal die Spekulationen darüber, was unter seiner wiederholten Drohung mit dem ETERNITY-PROGRAMM zu verstehen sei, sind Ihnen in Erinnerung? Dieses Wort gehörte zu seinem Vermächtnis! Es klang zwar nach Hollywood, aber jedermann vermutete dahinter etwas ähnliches wie die Offenbarung des Johannes, und es war uns allen vertrauter als sie.
    Haben Sie all das verdrängt? Oder verstellen Sie sich? Und wenn, zu welchem Zweck, lieber Freund? Ich bin Ihnen gegenüber offen und bitte Sie dringend, es gleichfalls zu sein. Denn Sie werfen mich in eine schreckliche Unsicherheit, wenn Sie tatsächlich nichts mehr wissen sollten von Boris Reeper und seinen Antimagisten. Ich sähe mich dann zu der Annahme gedrängt, dass ich dies alles allein erlebt, mit anderen Worten, nicht wirklich erlebt hätte – dass ich mich, bedenken Sie die Folgen!, seit Jahrzehnten in einer falschen Welt, einer Phantasmagorie, vielleicht einer virtuellen Realität aufgehalten hätte! Ich müsste Sie und mich fragen, ob es Sie und mich eigentlich gibt, ob Giacco mir tatsächlich Briefe bringt, ob sein Dorf Pantasina, seine Mutter, die Krämerin Signora Calise, meine beiden Hunde, ja die ligurische Küste überhaupt existieren! Alles würde in Frage gestellt, mein Freund, nicht einmal auf meine Liebe zu Liliane, auf meine Erinnerung an Ihr Abenteuer mit ihr, meine Eifersucht, wäre im Nachhinein noch Verlass, mein Leben schösse in einen Abgrund hinab, alles nur Wahn und Einbildung, verschlungen von einem schwarzen Loch, in dem letztlich meine Geburt widerrufen würde – genau das wäre mit mir geschehen, was Boris Reeper uns Zeit seines Lebens prophezeit hatte: das Verschwinden der ersten Welt hinter einer von uns geschaffenen

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