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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Rot, ließen als Gegenfarbe die Augen fast leuchten
    – grün, weit offen, nicht auf die Nähe gerichtet. Ich half ihr ins Boot, leicht war sie, schmal, trotz des Mantels, der ihr das Aussehen eines allzu jungen Soldaten verlieh. »Sie kommen wirklich zurecht?« fragte ich, und sie lachte, kniete sich auf den Boden des Kahns und griff hinter sich nach dem Ende des Ruders. Sie wischte im Halbkreis durch die Luft, bis ihre Hand gegen die Stange stieß, fasste sofort das Holz, richtete sich auf, rief, als sei sie schon weit von mir entfernt, »Danke, es wird schon gehen!« und bewegte das Ruder in kurzen Stößen so heftig, dass die Fähre ruckartig vom Steg wegstieß und wild schwankend über die Schattenlinie hinausglitt. Von der Insel her drangen Rufe. Ich sah Stieftaal dort auf dem Anlegesteg knien, und immer wieder schrie er herüber: »Anna! Anna!«, während die Frau in ihrem langen Mantel den Kahn jetzt mit ruhigeren Schlägen auf seine Rufe zu trieb, als sei das Brüllen des Säufers für sie wie das Licht eines Leuchtturms.

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    ES IST NOCH KÄLTER GEWORDEN, lieber Freund. In Rom, lese ich, fanden auf Glatteis zwei Menschen den Tod. In den Alpen haben ungeheure Schneemengen das Gewicht künftiger Lawinen angehäuft, und Meteorologen sprechen im Fernsehen von den ersten Anzeichen einer sich durch das kommende Jahrhundert entwickelnden Eiszeit. Sie tun dies übrigens mit derselben Sicherheit, mit der sie uns vor einem halben Jahrhundert die stetige Erwärmung unseres Weltkügelchens und das Schmelzen der Polkappen vorausgesagt haben. Meteorologen werden mir immer rätselhaft bleiben. Ihr bestimmtes Auftreten im Unbestimmten, ihre stets als Gewissheit vertretenen Vermutungen. Und wie sie immer schon mit den Wolkenbildern, mal von unten betrachtet, mal von Satelliten beäugt, umgegangen sind wie schlechte Exegeten der Malerei, die ein großes, von Bedeutungsströmen durchzogenes Werk auf eine einzige Auslegung einzuengen suchen. Immer dachte ich: Tintoretto zwischen vier Grad plus am oberen und null Grad am unteren Bildrand, das dürfte keiner wagen; aber die Schöpfung derart im kleinen Griff: jeden Abend. Vielleicht, ich weiß nichts davon, ist jetzt auch in Falling wieder Schnee gefallen, und die Hotels können ihre Gäste auf eine lang ersehnte Wirklichkeit verweisen: Die Fototapeten im Innern (weiß gekrönte Gipfel zwischen blauem Himmel und dem spiegelnden Eis des Sees) entsprächen endlich wieder einmal dem Anblick der freien Natur. Ich gönne ihnen weiß Gott dieses Glück, da doch lange genug Gäste wie ich gelästert haben über die künstlichen Panoramen an den Wänden von Hallen, Speisesälen, Bädern und Zimmern, die seinerzeit auf mich wirkten wie Bilder einer für immer versunkenen Vergangenheit. Nun also Eiszeit. Meinetwegen. An Propheten war nie Mangel. Ich hatte mir übrigens – daran erkennen Sie mein Bedürfnis nach Helligkeit – ein Zimmer erbeten, dessen Tapeten in den Frühling führten, eine Aufnahme wohl aus der Mitte des Jahrhunderts, weiß und gelb blühende Matten, die sich von der Kante des grauen Teppichbodens langsam in die Ferne hoben und an die Flanken des Vorgebirges stießen, wo das lichte Grün der Buchen die Erinnerung herauf rief an jene jungen Blätter, wissen Sie noch? Wie kleine Häute traten sie an den Ästen hervor, rollten sich aus glänzenden Knospen, warfen die Geburtsspelzen ab. Ich bin ein sentimentaler Mensch, lieber Freund, und ich gebe zu: Ich weinte an jenem ersten Abend in meinem Zimmer, als mir bewusst wurde, wie lange ich für selbstverständlich und zweifellos ewig gehalten hatte, was nichts Geringeres war als ein jährlich erneuertes Wunder, mehr: eine Gnade. Ich hockte mich auf den Teppichboden, um das in übersteigerter Farbigkeit vor mir ausgebreitete Vergangene aus der Perspektive zu sehen, die ich als Kind hatte. Ich ahnte ebenso wenig wie Sie, lieber Freund, dass uns dieses Wunder einmal wieder geschenkt werden würde. Ich hatte mir aus dem Zimmerkühlschrank sämtliche Schnapsfläschchen geholt, sie vor mir aufgestellt, kleine Gardisten und jeder aus einem anderen Fürstentum, ich im Schneidersitz, nein, nicht Lotus, wirklich nur Schneidersitz, und trank sie der Reihe nach weg, Grappa und Whisky, Magenbitter und Gin, Bénédictine und Wodka, Danziger Goldwasser und Aquavit. Bis ich endlich betäubt genug war, um die Wand und die darauf geklebte Erinnerung an die Natur als Landschaft zu sehen, fast schon begehbar. Ich raffte mich auf, lief auf den

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