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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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an seinen ungewöhnlich großen schwarzen Hut. Den Rest kennen Sie. Als ich ins Hotelzimmer trat, lag Liliane unter der Bettdecke, und Sie griffen gerade nach Ihrem Jackett, das über der Stuhllehne hing. Ich ließ die Tür offen stehen, Sie beugten sich zu Liliane hinunter, küssten sie auf die Stirn, gingen grußlos an mir vorüber und schlossen die Tür hinter sich. Ich erinnere mich, dass Ihre grünschillernde Seidenkrawatte perfekt gebunden war, vermutlich ein doppelter Windsor. Ich legte mich in meinen durchnässten Kleidern auf das Bett und kehrte Liliane den Rücken zu. Sie schaltete die Nachttischlampe aus. Dann, mitten ins arglose Erwachen, der Schlag am Morgen, dass ich nicht geträumt hatte. Gemeine frühe Wahrheit. Liliane wird Ihnen von meiner überstürzten Abreise nach Paris erzählt haben. Ich widmete mich endlich dem Studium der Informatik, das ich bis zu diesem Zeitpunkt nur sporadisch und nach wechselnden Launen betrieben hatte. Monatelang kein Zeichen von Liliane. Ich zwang mich, sie nicht aufzusuchen. Kurz hintereinander legte ich mehrere Prüfungen ab. Ich hasse Insekten. Ihre Augen. Ihre Fühler. Ihre zu vielen Beine. Die überlegene Beweglichkeit und undurchschaubare Intelligenz. In jenen Monaten stellte ich mir Sie, Herr Minister, als Insekt vor. In jeder Motte erschlug ich Sie. Einmal sah ich Sie zufällig in der Metro: Alle saßen gebeugt, Sie aufrecht – eine große, braune Heuschrecke. Es war nahe der Station Opéra. Ich stieg aus, suchte lange nach einer Drogerie und kaufte einen Giftspray.
    Als ich das Geschäft verließ, sah ich an einem Bauzaun das Plakat. Lilianes Ausstellung in der Galerie La Terre Brûlée – sie hatte es geschafft. Yves Brend’amour, damals der bedeutendste Galerist in Paris, brachte in seinem wenige Monate zuvor in Bobigny eröffneten, dritten Ausstellungsraum ihre »Kopfbilder« heraus, die »Images Céphaliques« – und mein über Monate trainiertes Vergessen zerging. Ich stand vor dem weißen Plakat, las die Schrift wieder und wieder, spürte, wie mir hinter der Stirn heiß wurde und die Pulsfrequenz stieg. Ich hoffte, die Ausstellung sei längst vorüber. Aber die Vernissage stand noch bevor, am Abend des übernächsten Tages. Das von der japanischen Architektin Haruko Kamata errichtete Kugelhaus in Bobigny hatte Schlagzeilen gemacht, und natürlich musste Brend’amour dort im obersten Segment residieren. Man sah, wenn man das Stadtgebiet an der Porte de Pantin nach Osten verließ, von weitem die dreißigstöckige, bronzen glänzende Kugel in ihrem Würfelkäfig ruhen. Die Konstruktion war bewundert worden, weil die Stockwerke der unteren Halbkugel durch konzentrische Säulen-kreise gestützt, die der oberen aber mittels ebenso konzentrisch angeordneter Stahltrossen an Dachstreben des sie umgebenden Käfigs abgehängt waren, so dass der mächtige Hausball wie in einem Würfel zu schweben schien, von dem nur die mächtigen Kanten und das Dachgitter ausgeführt waren. Alle sichtbaren Metallteile schimmerten in hellen Bronzetönen. Da das ganze Gebilde in einem großzügig angelegten, flachen Wasserbassin stand, von dessen Ufern filigrane Brücken zu den Eingängen im Parterre führten, nahm der Spiegel des Himmels der Kugel ihren Schatten und hob sie scheinbar vom Boden.
    Der Eindruck, dass es hier gelungen sei, die Schwerkraft aufzuheben, erhöhte sich durch die Zweiteilung der Kugel, denn die voneinander unabhängige Statik der beiden Hälften hatte die Architektin dafür genutzt, das ganze Gebilde am Äquator zu trennen und einen etwa zwei Stockwerke hohen Zwischenraum als offenen Garten mit vier Restaurants einzufügen, der nur durch einen zentralen Stamm für Versorgungsleitungen, Treppen und Lifte eine Verbindung zwischen unterer und oberer Halbkugel aufwies. Durch diese Mittelsäule fuhr ich ins oberste Geschoss, wo das verglaste Kuppelsegment die Galerie La Terre Brûlée beherbergte. Man ließ mich auch ohne Einladung ein, und ich stand, nervös, wie Sie sich denken können, in der sich zwischen den weißen Stellwänden drängenden Kultur-Nomenklatura von Paris. Rote, blaue, gelbe junge Frauen, offensichtlich bemalt und unter der Körperfarbe vollständig nackt, schoben sich mit Tabletts voller Champagnergläser und Bergen orangefarbener Garnelenschwänze zwischen weniger elegant als auffällig gekleideten Besuchern hindurch, ich schnappte mir ein Glas, sah Umarmungen, Wangenküsschen, gespielte Überraschung und falsche Freude, Parfums wolkten

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