Die Nacht der Haendler
nennen wird oder den Delabordismus oder – wenn es nach mir geht – den Kephalismus! Les images céphaliques – la première couche du Céphalisme! Ein weiter Weg, der heute begonnen wird! Doch Sie werden die ersten sein, die ihn beschreiten dürfen.« Hier wandte er sich an Liliane. »Wie viele Bilder stellen Sie hier bei mir aus, Madame?« Liliane fragte mit gespieltem Erstaunen, ob er denn nicht mehr wisse, dass es vierunddreißig Bilder seien, neun davon sehr großformatig. »Aber ja!« beeilte er sich, »das größte hängt ja direkt hinter Ihnen, ich liebe es besonders, obwohl mir eigentlich jedes gleich lieb sein müsste!« Wir hielten das Gerede für einen Scherz, gleich würden die Träger kommen und die Bilder hereinschleppen, gleich würde man erfahren, welche Kunst den großen Brend’amour bewegt hatte, der bis dahin unbekannten Madame Liliane Delaborde seine Räume zu öffnen. Doch nichts dergleichen geschah. Der alte Galerist wies mit ausschweifenden Gesten auf die leeren Wände. »All diese Kunstwerke, meine sehr lieben Freunde, sieht nur, wer sie zu sehen vermag ! Das wird Ihnen tautologisch vorkommen. Aber es ist die Wahrheit. Denn die Bilder trägt die Künstlerin in ihrem Kopf. Sie existieren ausschließlich in ihrem Kopf! Verstehen Sie mich recht! Sie sind sämtlich gemalt und gerahmt. Aber sehen kann sie nur, wer ein wirklicher Kunstliebhaber ist, nur, wer in Verbindung tritt mit dem Kopf von Madame Delaborde! Wer die wahre künstlerische Beziehung aufnimmt zu ihr! Und wer dann allmählich in seinem eigenen Kopf jene Größe der Phantasie zulässt, die ihn zum Sehenden macht!« Hätte all dies irgendwer irgendwo erzählt, man hätte ihm wahrscheinlich eine psychiatrische Behandlung empfohlen. Aber hier redete Yves Brend’amour in der Kuppel des einzigen Kugelhauses der Welt! Die Pressefotografen besannen sich auf den Grund ihrer Anwesenheit, dem ersten Blitz folgte das übliche Gewitter. Der Galerist schrie auf. »Sie werden auf ihren Bildern nur das Nichts haben, hören Sie auf!« Langsam begriffen wir, was hier vorging – entweder eine gigantische Scharlatanerie oder die historische Trennung der Kunst von der Bilderwelt der Medien. Manch einer lachte noch, als eine ältere Dame voller Entzücken ausrief: »Ich sehe, ich sehe, ja ich sehe, oh wie einzigartig, überwältigend, ah, Meisterin, ich bin mit Ihnen verbunden, es ist wunderbar!« Liliane nickte huldvoll, und Yves Brend’amour ließ von den bemalten Mädchen nun Preislisten der unsichtbaren Bilder verteilen. »Ich will Nummer fünfzehn!« rief die sehende Dame, der Galerist lächelte und notierte. Man kannte sich.
»Nummer fünfzehn ist verkauft, an Madame Ellaine Fosse!« sagte Brend’amour laut, und Liliane ging zu der Käuferin, dankte ihr, neigte sich an ihr Ohr und flüsterte ihr etwas zu. »Heißt es so?« fragte Madame Fosse. Der Galerist bat um Stille. »Sie haben soeben, meine sehr lieben Freunde, den ersten Verkauf eines Kopfbildes erlebt. Madame Fosse hat das Geheimnis erkannt, sie hat Nummer fünfzehn gekauft, für 95 000 Euro, und die Künstlerin hat ihr den Titel des Bildes genannt. Liliane Delaborde hat von nun an dieses Bild vergessen, sie trägt es nicht mehr im Kopf, es ist jetzt im Kopf von Ellaine Fosse! Es gehört ihr ganz. Es ist ein ziemlich großes Bild, aber Madame Fosse hat ja, wie ich weiß, ausreichend Platz dafür in ihrem wunderschönen Zuhause!« Heute möchte ich es kaum mehr für möglich halten, doch dieser erste Bildtransport von Kopf zu Kopf löste eine wahre Kaufhysterie in der Versammlung aus. Man schlug sich um die Bilder, die keiner sah. Während sich derart eine wundersame Vermehrung der Kunstkennerschaft ereignete und einige unter den Anwesenden ekstatisch auf die leeren Wände deuteten, um sich von den Umstehenden ihre Sicht der unsichtbaren Kunstwerke als die einzig mögliche bestätigen zu lassen, trat aus dem Hintergrund ein Herr auf Yves Brend’amour zu, der sich bisher auffallend zurückgehalten hatte: Seine große Gestalt in schwarzem Anzug, weißem Hemd mit bordeauxroter Fliege strahlte eine eindrucksvolle Selbstsicherheit aus; ebenmäßige, entspannte Züge, das graue Haar sehr kurz, ein dünner Pelz, der wie ein Kranz den Hinterkopf umgab; zwischen den fast weißen Schläfen eine faltenreiche Stirn und die hochgewölbte gebräunte Kuppel der Glatze. Ich fasste sofort Vertrauen zu ihm. Er beugte sich zu dem Galeristen hinunter und sprach leise mit ihm. Mimische Fragen. Sparsame
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