Die Nacht der Haendler
keinen Preis stören, aber ich bin Stunden umhergelaufen, um dieses Restaurant zu finden, und so bitte ich Sie, mir zu verzeihen, dass ich zwischen dem Wunsch, Ihre Vertrautheit nicht zu unterbrechen und dem Bedürfnis, mich hier zu setzen, abwägen muss.« Von solcher Umständlichkeit verblüfft, machte Liliane eine einladende Handbewegung, und Sie setzten sich – nicht neben mich, wie ich erwartete, sondern neben Liliane. Ich spürte sofort, dass die Rollen getauscht waren: Liliane und Sie sahen aus wie das Paar, ich wie das fünfte Rad am Wagen. »Abwägen zu müssen zwischen kleineren und größeren Zielen, finde ich immer unangenehm, aber man ist ja ständig in solcher Lage«, sagten Sie, und Liliane nickte. Ich fühlte mich erbärmlich. Sie luden uns zu einer Flasche Moet ein. Ich nahm an und dankte. Mein wachsender Ärger über mich selbst machte mich unbeholfen und einfallslos. Als ein Gong erklang und der Vorhang vor der kleinen Bühne beiseite gezogen wurde, um den Blick freizugeben auf eine große, von hinten beleuchtete Milchglasscheibe, neigte ich mich zu Ihnen hinüber und fragte: »Und dafür sind Sie Stunden durch die Stadt gelaufen?« Ich bemerkte nicht einmal, dass ich in meinem Versuch, Sie vor Liliane lächerlich zu machen, uns selbst denunzierte, denn wir waren ja vor Ihnen hier eingekehrt: ein Fake-Restaurant, eines jener damals in Mode stehenden Etablissements der amerikanischen Kette As If , sehr bald fand sich auch eine junge Frau, die hinter der Scheibe, sich biegend, spreizend, verrenkend, eine Schattenmasturbation vorspielte, dazu, von Lautsprechern übertragen, ihr Stöhnen, Keuchen, endlich kleine Schreie über die Tische der Zuschauer sandte und von den meisten Gästen mit Beifall bedacht wurde. Liliane bekam einen Lachanfall, Sie verfolgten die Darbietung angestrengt. Ich schämte mich und wusste nicht wofür. Weitere Auftritte folgten, paarweise und solo, männlich und weiblich, man servierte uns ein Gepansche, das sich Gulasch nannte, Sie orderten eine weitere Flasche Champagner, ich bestellte Grappa, trank zu schnell. Zum Reden kamen wir nicht. Als unter großem Gejohle zwei dickleibige Männer hinter der Glasscheibe das Schattenspiel einer Schwulenbegegnung damit begannen, dass sie einander die Gürtel lösten und die Hosen herunterzogen, hatte ich schon vier Gläser; als sich dann der eine hinter den anderen stellte und beide zu einem Schatten verschmolzen, der vor- und zurückpendelte, wurde mir schlagartig schlecht. Durch den anschwellenden Lärm im Lokal, in dem vor allem Männer ihrer Freude an der Darbietung mit Pfiffen und Schreien und rhythmischem Klatschen Luft machten, rettete ich mich auf die Toilette. Als ich zurückkehrte in den Gestank aus Schweiß und Zigaretten, waren Liliane und Sie verschwunden. Die Rechnung war bezahlt. Mein halb volles Grappaglas stand noch auf dem Tisch, ich hob es und warf es über die Köpfe der Gäste hinweg gegen die Milchglasscheibe. Ein kräftiger Kerl packte mich am Arm und stieß mich die Kellertreppe hoch. Hinter den bleichen Fassaden des Malteserplatzes ragten Kuppel und Glockenturm der angestrahlten St. Niklaskirche in den schwarzen Himmel und leuchteten mir als Wegweiser. Nieselregen ließ das Bild verschwimmen, ich verlief mich in den Gassen, hob den Kopf, empfing den kalten Wasserstaub im Gesicht, erkannte den Marktplatz, fand den Weg zum Kleinseitner Ring und zum Rathaus, wo an der Treppe mich Nepomuk aufhielt, der steinerne Heilige. Er glänzte schwarz vor Nässe, die beiden Putti zu seinen Füßen ließen das Wasser von ihren Zehen tropfen, und ich sah, wie das glitzernde Regenlicht von der Laterne an der Wand des Rathauses sich um das Kruzifix sammelte, das der Heilige im Arm hielt. Er selbst, den Kopf schief gelegt, blickte mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitleid auf mich herunter. »Na, was soll ich tun, Herr Johannes von Nepomuk?« fragte ich. »Was empfehlen Sie in meiner Lage? Ausschlafen? Das weiß ich selber. Ich brauche einen Lebensrat, ich bin beschädigt bis ins Herz, Verehrter, und Sie sind kompetent für Herzensheilung. Also, was soll ich tun?« Anstelle einer Antwort drehte er den Kopf mehrmals um 360 Grad. Ich versuchte es ihm nachzutun und hatte Erfolg. Das Haus zum Steinernen Tisch, das Rathaus, der ganze Kleinseitner Ring drehten sich um mich, und ich fiel vor dem Heiligen nieder. Ein älterer Herr half mir auf. Ich erinnere mich daran, dass ich seine Schritte schon von sehr weit her vernommen hatte, und
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