Die Nacht der Haendler
Koffer, kriegsgeübte Männer warfen sich auf den Boden, Frauen schrien, hoben ihre Kinder auf den Arm, und bald sah man die teuersten wie die einfachsten optischen Geräte in hohem Bogen zwischen den Sandsteinfiguren von der Brücke hinaus in die dunstige Luft des Nachmittags fliegen und sich uneinholbar der Moldau entgegensenken, in die sie mit fröhlichem Platschen eintauchten und wo die leichteren sich noch einige Sekunden schwimmend an der Oberfläche hielten, dann, den schnelltauchenden schwereren nach, gurgelnd und glucksend mitsamt all der in ihnen gespeicherten Abbilder der Welt auf den Grund sanken. Nur die bunten Wegwerfapparate aus Pappe, die aus wenig mehr als einem Film und einer Linse bestanden, schwammen auf dem Wasser und trieben als heitere Zwergenflotte der Nordsee zu. Von den Einschlägen aufgestört, hoben sich Enten, Gänse und ein Schwanenpaar vom Wasser in den kaltblauen Märzhimmel auf und fügten ihr Geschrei dem Lärm der Menschen hinzu. Obwohl gewiss alle, die auf der Brücke eingeschlossen waren, schon von ähnlichen, wenngleich nicht derart dreisten Überfällen der Antimagisten gehört, auch Fernsehberichte darüber gesehen hatten, gab es einige, die nicht glauben konnten, was ihnen nun real widerfuhr. Man sah Amerikaner abweisend lachen, die das Ganze für eine Umtauschaktion halten mochten; Japaner mit Geldbündeln winken, in der vergeblichen Hoffnung, sich freizukaufen; andere weinend über die Brüstung gebeugt, als wollten sie sich ihren Apparaten nachstürzen, weil ihr Gedächtnis dort versank und ihr Kopf sich seiner Leere schmerzhaft bewusst wurde; schimpfende deutsche Väter, einer soll mit dem Aufkauf der tschechischen Republik gedroht haben, und einen älteren Engländer, der offensichtlich im Augenblick seines Bilderverlustes einer vollständigen geistigen Verwirrung anheim fiel und, in der Mitte des Getümmels aufgereckt stehend, einer nur für ihn selbst sichtbaren Brigade mit dröhnender Stimme Angriffsbefehle erteilte. Die meisten freilich jammerten oder schwiegen und starrten voller Angst in die Augenschlitze der Schwarzmützen. Gewehrt hat sich, soweit ich sehen konnte, niemand. Ein fäkalischer Geruch breitete sich aus, der darauf schließen ließ, dass etliche in diesen Minuten tatsächlich um ihr Leben fürchteten.
Liliane und ich führten keinen Fotoapparat mit uns und hatten darum Zeit, zwei kleine Buben auf den Arm zu nehmen und zu trösten, die im Tumult ihre Eltern verloren hatten. So boten wir für wenige Minuten das Bild einer Familie, bevor ein wütender Italiener auf uns zustürzte, uns ohne Gruß und Dank die Kinder entriss, die nun erst zu weinen begannen, sie auf das Pflaster stellte und mit sich zerrte in die jammernde Menge. Schnell wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die Antimagisten. Dann Polizeisirenen. Zugleich ein Kamerateam des privaten tschechischen Fernsehens. Großes Palaver. Viele Stunden Formalitäten und Protokolle. Man versprach den Einsatz von Tauchern. Wir entzogen uns. »Warum habe ich keine Angst gehabt?« fragte Liliane. Ich schwieg. Ich dachte an meine frühere heimliche Begeisterung für die Idee des Antimagismus und wusste nicht, ob sie der soeben erlebten Realität standhalten würde. Vielleicht nahm ich in diesem Augenblick bereits Abschied von einer Hoffnung, die ich als jüngerer Mann geteilt hatte. Liliane sagte: »Ich werde keine Kakteen mehr malen.«
10
MANCHMAL, VEREHRTER MINISTER, kann ich nur noch trinken. Trinken, bis mein Gehirn wie ein losgelöstes Körperstück vor meinen Füßen liegt, pocht, und ich auf den blutigen Kloß blicke und mir ein Schwert wünsche, um auf ihn einzuschlagen. Es ist meine Art, zu schreien. Und ich habe einen verdammt guten Grund dafür. Giacco wird nicht mehr kommen. Ich weiß es, auch wenn die Ärzte in Imperia anders reden. Sie müssen so reden, sie müssen Mut machen, sie haben das an ihren eigenen Müttern gelernt. Signora Calise sitzt in ihrem Hinterzimmer neben der Telefonkabine und weint. Ihre Kasse ist verwaist. Daneben hat sie ein Schulheft und einen Bleistiftstummel gelegt. Wir treten schweigend in den Laden, nehmen uns schweigend aus den Regalen, was wir brauchen, notieren unsere Schulden, verlassen schweigend den Raum, in dem schon die Trauer zwischen die abnehmenden Vorräte kriecht. Signora Calise wünscht sich, dass einer zu ihr käme, nach hinten, ins Dunkel, ihr übers Haar striche. Wer tut das? Wenn Sie ein großer Mann sind, kommen Sie her und streichen Signora
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