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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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vorbei, mischten sich zu betäubender Süße. Gekicher und Bassgedröhn. Ich war nicht in der Stimmung, irgendjemanden hier angenehm zu finden. Bei meiner ziellosen Promenade zwischen Gruppen und Grüppchen hob ich den Kopf und tat so, als ob ich eine bestimmte Person suchte. Ich kannte niemanden hier. Alle, schien mir, wandten mir ihren Rücken zu. Ich suchte auch Liliane nicht, sie würde ihren Auftritt haben, sie war nicht zu verpassen. Ich fing an, die Rücken in glänzenden Blazern zu betrachten, die Kleiderausschnitte mit den mageren, hervorspringenden Schulterblättern, die bleichen Nacken mit Fettwülsten, ich entdeckte Warzen, Ausschlag, Furunkelnarben an den Hälsen. Niemand hier hatte mir etwas angetan, dennoch fand ich sie abstoßend. Plötzlich wandten mir alle ihre Gesichter zu. Aus ihren Mündern hingen Garnelenschwänze, was ihnen einen zugleich blöden und geilen Ausdruck gab. Ich wurde rot, schloss die Augen, öffnete sie wieder, ein gelbes Mädchen stand vor mir und hielt mir das Tablett entgegen, ich nahm ein zweites Glas, vergaß, mein leeres zurückzustellen, hatte nun beide Hände voll und musste den nächsten vorbeischwebenden Garnelenberg passieren lassen. Ein junger Kerl mit ölschwarzen Locken streifte mich, warf im Vorbeigehen seine Zigarettenkippe in mein leeres Glas, murmelte »Pardon« und verschwand. Ich stellte das Glas auf den Boden, ging weiter und hörte hinter mir ein helles Knirschen. Es schien mir zu laut, und erst jetzt bemerkte ich, dass die Stimmen leise geworden, die Gespräche verebbt waren. Die Beleuchtung nahm ab: Sehr langsam, einer natürlichen Dämmerung gleich, wurden die Lichter gedimmt. Bald standen wir im Dunkel und entdeckten den Sternenhimmel über der gläsernen Kuppel. Jeder legte den Kopf in den Nacken und schwieg. Für einen Augenblick trat Stille ein. Die Augen gewöhnten sich. Die Sternenzahl nahm zu. Einige flüsterten. Ich begann, mich wohl zu fühlen. »Merveilleux!« Der Aufschrei einer Frau, die uns ihre Begeisterung aufzwingen wollte, zerstörte den Genuss. Plötzlich weißes Licht, die meisten bogen vor der Blendung den Kopf weg, hoben den rechten Unterarm vor die Augen, wir wichen zurück und ich sah Liliane in der Mitte stehen, weiß von den Füßen bis zum Hals, ein gekalkter nackter Körper: wie eine Gipsstatue, auf der ein lebendiger Kopf saß, von der Mähne aus zahllosen dünnen, gleichfalls weiß gepuderten Zöpfen umrahmt. Mir war vorher nicht aufgefallen, dass die großen Stellwände leer waren. Weiß und leer. Für eine Vernissage, wie Sie zugeben werden, etwas ungewöhnlich. Liliane stand ruhig, hielt die Augen geschlossen. Sie lächelte. Hinter einer Wand trat klein der Meister hervor, Yves Brend’amour, leicht gebeugt, er muss damals schon achtzig gewesen sein, in einem himmelblauen Seidenanzug, auf der Vollglatze ein goldenes Käppchen. Er stellte sich Liliane zur Seite und verneigte sich. Man applaudierte. »Meine sehr lieben Freunde«, begann er. »Seit wie vielen Jahrzehnten hat man uns gesagt, die Kunst sei an ihrem Ende angelangt! Alles sei versucht, alles ausgeführt worden. Die Moderne sei tot schon seit 195o! Seither die Beliebigkeit der Stile und Materialien! Dann der Rückzug auf das Handwerkliche! Und wie langweilig war das, nicht wahr? Wie haben wir uns gesehnt nach einem neuen radikalen Augenblick! Und wie lange mussten wir darauf warten! Wie lange, meine verehrte Liliane, haben wir gewartet auf Sie!« Er nahm Lilianes Hand und führte sie an seine Lippen. Den plätschernden Beifall wischte er zur Seite. »Sie wissen noch nicht, was ich weiß, meine sehr lieben Freunde! Sie wissen noch nicht, dass Sie Zeuge sein werden bei einem der größten künstlerischen Ereignisse seit dem Kubismus! Hier und heute beginnt eine unerahnt neue Kunst! Ein kleiner Schritt für Sie alle, aber ein Riesenschritt für die Menschheit – denn Sie werden durch Liliane Delaborde dazu gezwungen werden, eine Kraft in sich wiederzuentdecken, die auf ewig verloren schien: die Phantasie! Und Sie werden die ersten sein, die diese Verwandlung erfahren – und hinaustragen können in alle Welt! Jetzt dürfen Sie applaudieren.« Die Gemeinde gehorchte, und der Meister mit dem weiblichen Gesicht kostete den Beifall aus. »Glauben Sie nicht, dass es leicht wird! Sie sehen ja noch keine Bilder an diesen makellosen Wänden! Sie wissen ja noch nichts! Sie ahnen noch nicht, dass es bald eine neue Weltkunst geben wird, die man vielleicht einmal den Lilianismus

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