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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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entsetzt war über die Gewalttätigkeit, Überreste einer puritanischen Einstellung, die sich gegen das vollständige Aufgehen in der Befriedigung von Grundbedürfnissen stemmte. Aber selbst dann, wenn Stonehaven mich nicht glücklich machte, wenn ich gegen Jeremy oder Clay oder mich selbst wütete, war ich auf eine seltsam verdrehte Art immer noch glücklich, zufrieden zumindest, zufrieden und erfüllt.
    Alles, was ich im menschlichen Leben gesucht hatte, war hier. Ich wollte Stabilität? Ich hatte sie an einem Ort und in Leuten, die mich immer willkommen heißen würden, ganz gleich, was ich tat. Ich wollte eine Familie? Ich hatte sie in meinem Rudel, Loyalität und Liebe jenseits der simplen Etiketten Mutter, Vater, Schwester, Bruder. Und nachdem ich jetzt festgestellt hatte, dass ich alles hatte, was ich immer gewollt hatte – war ich bereit, meine menschlichen Pläne und Ambitionen aufzugeben und mich für immer in Stonehaven zu vergraben? Natürlich nicht. Ich würde zugleich immer das Bedürfnis nach einem Platz in der größeren Welt haben. Keine Therapie und keine Selbstanalyse würden daran etwas ändern. Ich würde nach wie vor einen Job in der Menschenwelt haben, vielleicht im Urlaub dorthin entkommen, wenn das isolierte Leben des Rudels mir zu viel wurde. Aber Stonehaven war mein Zuhause. Ich würde nicht mehr fortlaufen.
    Und auch vor mir selbst konnte ich nicht mehr fortlaufen. Ich meine damit nicht meine Werwolfseite. Ich glaube, die habe ich schon vor Jahren akzeptiert, sie vielleicht sogar begrüßt, weil sie mir eine Entschuldigung für so viele Dinge in meinem Leben lieferte. Wenn ich aggressiv und bissig reagierte, war es das Wolfsblut. Wenn ich über andere herfiel – wieder das Wolfsblut. Desgleichen meine gewalttätigen Neigungen. Launisch? Wütend? Aufbrausend? Zum Teufel, es gab doch einen Grund, weshalb ich so war, oder vielleicht nicht? Ich war ein Monster. Nicht gerade eine ideale Voraussetzung, um zu Harmonie und innerem Frieden zu finden.
    Aber um der Wahrheit Genüge zu tun: Ein Werwolf zu sein hatte mich nicht erst zu dem gemacht, was ich war. Man brauchte sich nur Jeremy, Antonio, Nick, Logan, Peter anzusehen. Jeder von ihnen mochte einige meiner weniger attraktiven Eigenschaften mit mir gemeinsam haben – aber das Gleiche galt für so ziemlich jeden Fremden auf der Straße. Ein Werwolf zu sein hatte es mir einfacher gemacht, meinen Ärger auszuleben, und das Leben mit dem Rudel machte ein solches Verhalten akzeptabler – aber alles, was ich war, war ich schon gewesen, bevor Clay mich gebissen hatte. Natürlich, dies zu wissen und es zu akzeptieren waren zwei höchst verschiedene Dinge. Was das Akzeptieren anging – daran würde ich arbeiten müssen.
    Ich brauchte fast einen Monat nach jenem Tag in Toronto, bis mir aufging, was Clay gemeint hatte, als er mir erklärte, er wisse, weshalb ich Philip gewählt hatte, und es könne nichts daraus werden. Die ersten beiden Wochen, nachdem wir Clay zurückgeholt hatten, waren die reine Hölle; an manchen Tagen war ich mir nicht sicher, ob er es bis zum nächsten schaffen würde. Zumindest kam es mir so vor. Ich beobachtete ihn, wenn er bewusstlos im Bett lag, und war mir sicher, dass seine Brust sich nicht mehr hob. Ich rief nach Jeremy. Nein, Korrektur. Ich brüllte nach Jeremy, und er kam angestürzt. Natürlich atmete Clay völlig normal, aber Jeremy gab mir nie das Gefühl, überreagiert zu haben. Er murmelte etwas von vorübergehender Atemnot und untersuchte Clay gründlich, bevor er sich auf den Stuhl neben dem Bett setzte, um ›Rückfällen‹ zuvorkommen zu können. In der dritten Woche kam Clay für längere Zeitspannen zu sich, und selbst ich musste nun zugeben, dass die Gefahr vorüber zu sein schien. Damit will ich nicht sagen, dass ich mein Feldlager neben seinem Bett abbrach. Ich tat nichts dergleichen. Ich konnte nicht. Und solange ich darauf bestand, dort zu bleiben, solange bestand Jeremy darauf, meinen Platz zu übernehmen, wenn ich schlief oder rennen ging, obwohl wir beide genau wussten, dass diese unaufhörliche Wachsamkeit keinem Zweck diente außer meinem Seelenfrieden. Gegen Ende der dritten Woche kam ich vom Duschen zurück und fand Jeremy auf meinem Stuhl neben Clays Bett vor, in genau der gleichen wachsamen Haltung, in der ich ihn zwanzig Minuten zuvor zurückgelassen hatte. Ich blieb in der Tür stehen und sah ihn an; die Ringe unter seinen Augen fielen mir auf und die scharf hervortretenden Wangenknochen.

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