Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des einsamen Träumers.

Die Nacht des einsamen Träumers.

Titel: Die Nacht des einsamen Träumers. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
ist. Francesca bleibt nur so lang wie unbedingt notwendig im Klo (höchstens ein paar Minuten) und tut dann zwei Dinge gleichzeitig: Sie betätigt die Spülung und öffnet die Tür. Wenn sie gespült hätte, bevor sie die Tür öffnete, hätten ihr diese wenigen Sekunden möglicherweise das Leben gerettet. Denn, da bin ich fast sicher, so wie Francesca nicht weiß, dass inzwischen jemand in den Toilettenvorraum gekommen ist, weiß der Mörder (der noch nicht ahnt, dass er zum Mörder wird) nicht, dass dort drin jemand ist. Wenn er das Geräusch der Wasserspülung gehört hätte, wäre er vielleicht weggelaufen oder hätte den Vorraum gar nicht erst betreten. Stattdessen bleibt er einen Augenblick wie gelähmt stehen, als er aus dem Nichts jemanden auftauchen sieht. Und deine arme Freundin war gewiss nicht weniger überrascht.
    Einige Journalisten stellten die Hypothese auf, ein Triebtäter sei Francesca zufällig auf der Straße begegnet, sei ihr gefolgt und habe die junge Frau, als sie sich verzweifelt wehrte, getötet. Abgesehen davon, dass es keinen Vergewaltigungsversuch gegeben hat (Slip und Büstenhalter weisen keine Risse, sondern nur Schnitte von dem Messer auf), ist diese Hypothese angesichts von Francescas rein zufälliger Wahl haltlos: Dass die Schule in jenen Tagen keine Kurse abhielt, wusste sie, doch ein Triebverbrecher konnte das nicht wissen. Er hätte, kaum im Haus, sein Opfer sofort angegriffen, ohne der Frau Zeit zu lassen, in den dritten Stock zu gehen, ohne geduldig zu warten, bis sie ihre Notdurft verrichtet hatte, und dann über sie herzufallen. Ach komm! In jedem Stock gab es leere Kursräume und Zimmer! Ein Triebtäter weiß, dass er wenig Zeit hat, es kann immer jemand kommen, und dann muss er von seinem Opfer ablassen. Nein, die Hypothese mit dem Triebtäter ist nicht haltbar. Meiner Ansicht nach ist der Täter jemand, den deine Freundin kannte und den sie bei etwas Verbotenem überrascht hat. Und das, wobei sie ihn gesehen hat (oder was er im Begriff war zu tun), hätte für ihn, wäre es bekannt geworden, einen unwiderruflichen Schaden bedeutet. Schau, Francesca wurden über vierzig Messerstiche zugefügt, sie hat Verletzungen an den Händen, die von dem Versuch herrühren, die Klinge abzuwehren, viele Stiche wurden ihr, wie man festgestellt hat, nach dem Tod beigebracht. Francesca muss verzweifelt geschrien haben, aber der Täter hat unerbittlich immer weiter auf sie eingestochen, als würde er sie hassen. Es ist die Typologie des Triebverbrechens, doch in unserem Fall stürzt sich der Täter aus einem anderen Trieb heraus wütend auf das Opfer und verstümmelt es: nämlich aus Hass gegen die Person, die ihn zwingt, zum Mörder zu werden. Noch mal: Die benutzte Waffe müsste, wie es heißt, ein etwa dreißig Zentimeter langes und knapp zwei Zentimeter breites Messer sein. Bei diesen Maßen denke ich eher an einen an beiden Schneiden geschliffenen Dolch als an ein richtiges Messer. Da das Verbrechen nicht in einem Wohnhaus stattfand, in dessen Küche man einen solchen Gegenstand hätte finden können, folgt daraus außerdem, dass der Täter die Waffe dabeihatte. Aber wenn Francesca nicht von einem Triebtäter getötet wurde (der eine solche Waffe bei sich tragen könnte, um sein Opfer, nachdem er es missbraucht hat, zum Schweigen zu bringen), was kann es dann in einer Schule so dolchähnliches geben? Ich weiß, was es sein kann, aber ich möchte, dass Ligorio von selbst zum gleichen Ergebnis kommt.
    Noch eine Überlegung: Sicher sind die Kleider, die der Täter trug, voller Blutflecken. Die Bilder, die ich gesehen habe, zeigen überall Blut, an den Wänden und auf dem Fußboden. In diesem Zustand und zu dieser Uhrzeit hätte der Täter nicht unbemerkt durch die Straßen laufen können. Er müsste sich notwendigerweise umziehen. Das hat er getan, und die beschmutzten Kleider hat er mitgenommen. Aber wenn wir diese Möglichkeit als gegeben annehmen, wo hat er sich dann umgezogen? Im Toilettenvorraum bestimmt nicht. In einem leeren Büro? Warum hat man dann im Flur keine Abdrücke von Schuhsohlen festgestellt, die sicher blutverschmiert waren? Oder hat man sie etwa festgestellt, und die Polizei wollte diesen wichtigen Punkt nicht bekannt geben?

      Liebe Livia, im Augenblick enden meine Überlegungen hier. Wenn du es für richtig hältst, kannst du das alles Ligorio erzählen.

      Ich wäre jetzt so gern mit dir zusammen. Aber du magst Francescas Eltern noch nicht allein lassen, und mich

Weitere Kostenlose Bücher