Die Nacht des einsamen Träumers.
mir unmöglich, dass jemand sie absichtlich hatte töten wollen. Er sah mich aufmerksam an und breitete die Arme aus. »Hat sie gelitten?« Ich glaubte, er würde meinem Blick ausweichen, aber er sah mir fest in die Augen: »Ich fürchte, ja.« Ich hatte nicht den Mut, weitere Fragen zu stellen. Doch er sah mich weiter forschend an und fragte dann, beinah schüchtern: »Helfen Sie mir?« Im Aufzug stellte er mir noch eine Frage: »Und was machen Sie?« Er meinte natürlich beruflich. Und ich antwortete ganz unpassend, anstatt zu sagen, ich sei Angestellte, entschlüpfte mir dies: »Ich bin mit einem sizilianischen Kollegen von Ihnen liiert.« Daraufhin sagte er, er heiße Giorgio Ligorio. Ich erspare dir die Qualen von Francescas Eltern. Und meine. Ich wartete bei den Leonardis auf Francescas Onkel und Tanten und weitere Freunde, die mich ablösten. Die Sonne ging schon unter, als ich heimfuhr, um mich hinzulegen. Ab acht Uhr abends klingelte das Telefon, es waren Freunde, Arbeitskollegen, Bekannte, sie alle konnten es nicht glauben. Es quälte mich, dauernd von Francesca sprechen zu müssen. Ich wollte das Telefon schon ausstecken, als es erneut klingelte. Es war der Kommissar, den ich am Nachmittag kennen gelernt hatte (er hatte mich um meine Telefonnummer gebeten). Er wollte mit mir über Francesca reden, er hatte, während wir zusammen bei den armen Eltern waren, begriffen, wie tief unsere Freundschaft gewesen war. Trotz meines Zustands, den du dir vorstellen kannst, willigte ich ein, dass er mich besuchte. Die Polizei hat die Wege meiner unglücklichen Freundin rekonstruiert. Zuerst ging sie in eine Apotheke in der Nachbarschaft, um Augensalbe und einige andere Medikamente zu kaufen, dann fuhr sie mit dem Bus (sie hatte ein Auto, fuhr aber nicht gern) in die Innenstadt. Dort ging sie in ein Geschäft und kaufte einen Badeanzug. Sie wollte noch einen, in einer anderen Farbe, aber den gab es nicht mehr. So ging sie zu Fuß in ein zweites Geschäft, wo sie den gewünschten Badeanzug kaufte. All das konnte man anhand der Quittungen rekonstruieren, die man zusammen mit den Medikamenten und den Badeanzügen in ihrem Beutel fand. Alles war in dem Beutel: Papiere, Portemonnaie (mit etwa vierhunderttausend Lire), Lippenstift. Kurzum, der Mörder hat nichts an sich genommen, die Polizei schließt aus, dass es ein Dieb oder ein Drogensüchtiger auf der Suche nach Geld für Stoff war. Es hat auch keinen Vergewaltigungsversuch gegeben, ihre Unterwäsche war zwar voller Blutflecken, aber in Ordnung. Wie auch immer, die Obduktion wird die Details klären. Er wollte alles über Francescas Gewohnheiten, Interessen und Freundschaften wissen. Irgendwann merkte ich, dass ich über den Mord einiges noch nicht wusste und er auch nichts gesagt hatte. »Wo ist es passiert?« Er sagte, der Leichnam sei in der Toilette der privaten Abendschule »Thomas Mann« gefunden worden, die Francesca bis vor etwa zehn Tagen besucht hatte, um Deutsch zu lernen. Doch die Kurse waren seit dem Fünfundzwanzigsten letzten Monats zu Ende, und die Schule hatte wegen der Sommerferien schon geschlossen. Ligorio erklärte mir, Francesca habe die Schule (sie belegt die drei Stockwerke einer Villa in einem kleinen Park) betreten, weil sowohl Gartentor als auch Eingangstür offen standen, da Arbeiter mit Renovierungsarbeiten beschäftigt waren. Vom Verwaltungspersonal war niemand da, alle waren schon im Urlaub. Francesca muss kurz nach zwölf Uhr mittags an der Schule angekommen sein: Zu dem Zeitpunkt saßen die vier Arbeiter hinter der Villa in einem Pavillon und verzehrten ihre Mittagsmahlzeit. Deshalb konnten sie nicht sehen, wie Francesca das Haus betrat und zur Toilette im dritten Stock ging, wo sich die Büros, nicht die Schulräume befinden. Da fragte mich der Kommissar, ob Francesca sich mit jemandem in der Schule verabredet haben könnte, vielleicht mit einem Kollegen oder einer Kollegin aus ihrem Kurs. Ich antwortete, dass ich das nicht für wahrscheinlich hielte, auch weil ich von meiner Freundin wusste, dass das Institut geschlossen war. Doch da fiel mir etwas ein, und ich fragte, wie weit die Schule vom letzten Geschäft, in das Francesca gegangen war, entfernt sei. Er antwortete, nicht weiter als etwa hundert Meter. Ich genierte mich ein bisschen, aber ich erzählte Ligorio von einer eigenartigen Phobie Francescas: Es war ihr unmöglich, die Toilette eines Ortes zu benutzen, wenn sie an diesem Ort nicht vorher einige Tage lang immer wieder gewesen
Weitere Kostenlose Bücher