Die Nacht des einsamen Träumers.
war. Sie konnte also in Bars, Restaurants oder Zügen nicht auf die Toilette gehen. All das, hat sie mir mal erzählt, war ihr schrecklich unangenehm, aber sie war eben so, sie konnte nichts dagegen tun. Ich äußerte die Vermutung, dass Francesca im Vorübergehen gesehen hat, dass das Gartentor des Instituts offen stand. Sie betrat die Schule, ging in den dritten Stock, wo die am wenigsten benutzte (und wegen der Sommerferien sowieso unbenutzte) Toilette ist, und begegnete dort ihrem Mörder. Ligorio zeigte sich beeindruckt von dieser Hypothese.
Nach einer Weile ist er wieder gegangen. Und ich fing an, dir diesen Brief zu schreiben, den ich jetzt unterbreche. Die Zeitungen dürften am Kiosk schon erhältlich sein. Mir ist sehr kalt, obwohl es zu dieser frühen Morgenstunde aussieht, als würde der Tag schön und wohl auch heiß werden. Bis nachher.
Lieber Salvo, es ist neun Uhr morgens, jetzt fühle ich mich ein wenig besser und kann weiterschreiben. Es ging mir sehr schlecht. Als ich die Zeitungen kaufte, konnte ich nicht anders, ich musste gleich am Kiosk hineinschauen. Ich war nicht imstande, den ersten Artikel zu Ende zu lesen. Der Verkäufer hat gesehen, wie ich schwankte, er kam heraus und gab mir seinen Stuhl. Die Details sind schrecklich. Nicht weniger als vierzigmal wurde brutal auf Francesca eingestochen, sie hat sich gewehrt, wie einige charakteristische Wunden an ihren Händen beweisen, sie muss geschrien haben, aber es war alles vergebens. Mehr mag ich nicht schreiben. Ich schicke dir den Brief und die Zeitungsausschnitte über einen Zustelldienst. Morgen wirst du alles haben. Ruf mich an.
In großer Liebe, Livia
Vigàta, 5. Juli
Meine liebe Livia, gestern Abend habe ich am Telefon aus deinen Worten geschlossen, dass durch die ersten Indiskretionen über die Obduktion das Bild des Ganzen in gewisser Weise nicht mehr so düster ist, auch wenn das Entsetzen unverändert bleibt. Sie wurde nicht vergewaltigt, und der Täter hatte höchstwahrscheinlich auch nicht die Absicht, das zu tun. Und die Tatsache, dass ihre Blase völlig leer war (entschuldige, dass ich so ins Detail gehen muss), stützt deine Vermutung: Als Francesca das Gartentor des Instituts unverhofft offen vorfand, ging sie in den dritten Stock des Hauses, denn sie wusste, dass es dort eine für sie akzeptable Toilette gab. Und hier hatte sie eine unvorhergesehene tödliche Begegnung. Ich habe im Fernsehen und in der Presse alle Meldungen über den Fall aufmerksam verfolgt. Du bittest mich nicht ausdrücklich darum, aber ich habe deinen Wunsch verstanden: Du möchtest, dass ich mich mit dem Verbrechen befasse. Vielleicht überschätzt du meine Fähigkeiten. Zu wissen, von wem und warum Francesca ermordet wurde, würde für dich bedeuten, etwas, das dir sinnlos und absurd und daher umso unerträglicher erscheint, in die beruhigenden Grenzen des »Begreifens« zu verschieben. Nur um dir dabei zu helfen, stelle ich einige allgemeine Überlegungen an: Verzeih die Kälte, verzeih die Worte, die ich benutze n werde: Die polizeiliche Ermittlung kann auf Verletzungen der Gefühle oder Verstöße gegen gutes Benehmen keinerlei Rücksicht nehmen. Gestern Abend sagtest du, dass mein Kollege Ligorio, der dich wiedersehen wollte, dich gefragt hat, ob du mir von dem Mord an Francesca geschrieben oder mit mir darüber gesprochen hast, und dass er, als du bejahtest, wissen wollte, wie ich darüber denke. Du sagst, du hättest aus seinen Worten etwas wie eine Bitte um Mitarbeit herausgehört. Oder dass ihm meine Mitarbeit zumindest nicht unangenehm wäre. Bist du sicher, dass du auf Ligorio nicht einen Wunsch überträgst, der allein dein Wunsch ist? Ich habe mich informiert: Mein Kollege ist jung, intelligent und fähig und wird zu Recht geschätzt. Wie auch immer, ich stehe dir mit dem Wenigen, das ich tun kann, zur Verfügung.
Etwa um zehn nach zwölf, als die vier Arbeiter, die in dem Haus beschäftigt sind, in ihrer Mittagspause, die um zwölf beginnt, im Pavillon sitzen, geht Francesca unbemerkt ins Haus, steigt die Treppen hinauf (soviel ich verstanden habe, gibt es keinen Aufzug), ohne jemandem zu begegnen, betritt die leere Damentoilette und schließt die Klotür hinter sich ab. Die Toilette besteht aus zwei Räumen: einem großen Vorraum mit Waschbecken und einem Warmluftgebläse zum Händetrocknen (ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen) und der eigentlichen Toilette, die mit einer schmalen, von innen abschließbaren Tür versehen
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