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Die Nacht des einsamen Träumers.

Die Nacht des einsamen Träumers.

Titel: Die Nacht des einsamen Träumers. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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die Polizei an. Ich habe dir alles berichtet, was dein Kollege mir erzählt hat, der, wie ich finde, liebenswürdig und sehr, sehr gescheit ist. Er ist in meinem Alter.

      Bitte denk weiter über dieses Verbrechen nach, das mich so verzweifelt macht.
    Francescas Mamma geht es sehr schlecht, sie braucht ständige Betreuung: Abends kommt eine Krankenschwester und löst mich ab. Ihr Vater ist wie betäubt: Er macht weiterhin seine Sachen, als wäre nichts geschehen, aber er bewegt sich sehr merkwürdig, ganz langsam. Es tut mir Leid, dass unser lang geplanter Urlaub ein solches Ende nimmt. Aber du kannst ja auch nicht fort. Sei's drum. Ich rufe dich heute Abend an. Ich küsse dich, in Liebe
    Livia

      Kannst du denn wirklich nicht kommen? Nicht mal für einen Tag? Ich vermisse dich.

    Vigàta, 10. Juli
      Meine liebe Livia, ich glaube, ich habe jetzt ein klares Bild dessen, was geschehen ist.
      Das Problem war, dass ich mich zu lange von einem vermeintlichen Problem ablenken ließ: Wie kann der Täter in auffallend blutbefleckten Kleidern herumgelaufen sein, ohne dass ihn jemand bemerkt hat? Alle tragen bei dieser glühenden Hitze helle, leichte Kleidung; es ist auch unvorstellbar, dass der Täter einen Regenmantel anhatte, mit dem er seine beschmutzte Kleidung teilweise verhüllt hätte.
      Was mich auf die richtige Spur gebracht hat, war der halb verwischte Abdruck des nackten Fußes, der zur Toilette hinzeigt. Wenn Ligorio hierzu die Arbeiter befragt hat, dann handelte es sich eindeutig um den Fuß eines Mannes.

    Hinzu kommt der Faktor Zeit. Der Mann tötet Francesca, wozu er ein paar Minuten braucht, wäscht sich (nicht nur die Hände, wie ich gleich noch schreiben werde) und säubert dann sorgfältig den Flur. Außerdem kümmert ihn das verzweifelte Schreien des Opfers nicht besonders. Warum fand er es nur notwendig, den Flur zu putzen, nicht aber den Toilettenvorraum? Meines Erachtens nicht so sehr, um die Spuren seiner Schritte zu verwischen, sondern vielmehr, um es den Ermittlern unmöglich zu machen, den Weg dieser Spuren zurückzuverfolgen. Wenn diese meine Vermutung stimmt, dann können die Spuren nur von der Toilette in eines der Büros führen, die an dem Flur liegen. Also ist der Täter ein Angestellter des Instituts, der genau weiß, wie lange die Mittagspause der Arbeiter dauert. Er weiß, dass er eine Stunde Zeit hat, um ungestört zu handeln.

    Aber warum hat er getötet?
      Ein Versuch. Ein Angestellter profitiert von der Mittagspause, um heimlich einen Mann zu treffen, mit dem er ein Verhältnis hat. Wohlgemerkt einen Mann, keine Frau: Der Fußabdruck im Flur stammt von einem Mann. An diesem verfluchten Tag empfängt der Institutsangestellte seinen Freund. Das hat er früher sicher auch schon getan, und es ist bis zu diesem Zeitpunkt immer glatt gegangen. Es ist sehr heiß, sie schließen sich im Büro ein und ziehen sich aus. Plötzlich muss zwischen den beiden etwas stattgefunden haben (ein Streit? ein erotisches Spiel?), infolge dessen der Freund die Tür des Büros öffnet und nackt auf dem Flur Richtung Damentoilette rennt. Der Angestellte, ebenfalls völlig nackt, verfolgt ihn mit einem Brieföffner (dem Dolch) in der Hand. Als die beiden im Toilettenvorraum sind, taucht überraschend Francesca auf. Deine Freundin kennt den Angestellten bestimmt und ist vor Überraschung wie gelähmt. Es dauert nur einen Augenblick: Vor Entsetzen darüber, dass er entdeckt wurde (anscheinend hielt er seine Homosexualität streng geheim, einer bürgerlichen Vorstellung von »Anstand« folgend), verliert der Angestellte buchstäblich den Verstand und geht reflexartig auf Francesca los. Der Freund rennt inzwischen hinaus, läuft zurück ins Büro und flüchtet. Der Angestellte sticht immer weiter auf sein Opfer ein, Francesca schreit, aber der Mann weiß, dass niemand sie hören kann. Als sein Hass erschöpft ist, wäscht er sich sorgfältig von Kopf bis Fuß (daher das viele Wasser außerhalb des Waschbeckens), läuft den Flur entlang zurück ins Büro und zieht sich an.
      Hier lag unser Irrtum: in der Annahme, der Täter habe seine Kleidung gewechselt.

    Als er angezogen ist, beseitigt er die Spuren im Flur, verlässt
    in aller Ruhe die Schule und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.
      Ist es möglich, dass Ligorio nicht zu dem gleichen Ergebnis gekommen ist wie ich? Oder wollte er es nur von mir bestätigt wissen?

      Entschuldige, Liebling, wenn mein Brief so kurz angebunden und

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