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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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erhobenen Arme, die ganze überaus schlanke und biegsame Figur.
    Der Akrobat sprang vor, trotz seiner Größe und seines kraftvollen Körpers federnd und leicht, selbst wie ein Tänzer. Er griff die Hände seiner Partnerin, erst die linke, dann die rechte, und schon wirbelte sie hinauf, ihre Röcke flogen einer sommerblütenbunten Wolke gleich, ihr schwarzes Haar löste sich aus den Bändern und glitt wie ein Seidenvorhang über ihren Rücken. Dann stand sie auf seinen Schultern und balancierte anmutig seine Bewegungen aus, als er so tat, als wolle er sie abschütteln. Die Menge lachte, ein Mann johlte gar, eine Frau kreischte angstvoll auf, als die Ballerina von den Schultern des Akrobaten rutschte, für die Dauer eines Wimpernschlages in der Luft zu schweben schien, bevor sie von seinen kräftigen Armen aufgefangen wurde. Seine Augen, sein ganzes Gesicht waren Ausdruck stolzer Freude. Leicht wie eine Feder hob er sie hoch, drehte sich einmal mit ihr im Kreis und setzte sie, nun ganz zerbrechliche Elfe, behutsam auf die Erde. Sie sank in einem höfisch anmutenden Knicks nieder und verharrte, den Kopf auf den vorgestreckten rechten Fuß gebeugt, bis der Applaus aufbrandete. Da sprang sie auf, zauberte ein rotes Filzhütchen aus den bunten Bahnen ihrer Röcke und begann mit schmeichelndem Lächeln und kleinen, lustig hüpfenden Schritten entlang der Menge einen Obolus für ihre Kunst zu erbitten.
    Molly hätte gerne einen Dreiling in das Hütchen geworfen, doch ihre Rocktasche war leer. Sie trat einen Schritt zurück, und just bevor sie gegen ihn stolperte und ihr hölzerner Absatz seinen Fuß traf, roch sie schon die seltsame Ausdünstung des Apothekergesellen.
    «Jungfer Runge, da seid Ihr ja!» Momme Drifting überhörte errötend Mollys erschreckte Entschuldigung, was womöglich daran lag, dass es keiner bedurfte. Er hatte den unerwarteten Zusammenprall als höchst angenehm empfunden. «Da habt Ihr so nah bei mir gestanden, und ich habe es nicht bemerkt? Wirklich schändlich. Welche Freude, Euch zu sehen, Jungfer Runge, ich meine, der Meister wird sich freuen. Er wartet dringend auf Eure Morsellen, und natürlich auf das andere Konfekt. Auf das mit dem Ingwer sind wir besonders gespannt. Aber habt Ihr das gesehen? Das Tanzen ist doch eine herrliche Kunst. Natürlich hat der Akrobat auch seinen Teil dazu beigetragen, aber dieser Tanz. Diese Leichtigkeit.» Driftings rechter Fuß versuchte eine der eleganten Bewegungen der Tänzerin, was ihn ein wenig stolpern ließ, er glich nun mal weder dem Akrobaten noch der Tänzerin, viel eher der jungen Konditorin, die ihm mit einer Mischung aus Amüsement und Verblüffung zusah. «Und diese Kleider, bunt und doch noch schicklich, ja, ich meine», gerade rechtzeitig fiel Momme ein, was die Sitte forderte, «bunt, wie Gott die Natur geschaffen hat, wie eine Wiese im Frühsommer. Solche Röcke würden Euch auch ganz wunderbar kleiden, Jungfer Runge, wirklich wunderbar.»
    Der Geselle der Michaels-Apotheke beim Opernhof vibrierte vor Begeisterung, wobei fraglich blieb, was ihn stärker beeindruckt hatte, ihre und des Akrobaten Kunst oder das äußerst freizügige Dekolleté der jungen Akteurin, der Blick auf ihre wohlgeformten, im Tanz wunderbar unschicklich entblößten Beine. So oder so war er in zahlreicher Gesellschaft, im Hütchen der Tänzerin klimperte es vergnügt, als Molly, just bevor das Klimpern allzu nah kam, an ihre leeren Taschen dachte und Momme mit sich in den Durchgang zur Apotheke zog.
    «Ich habe nur noch die letzten Minuten gesehen», erklärte sie mit einem flüchtigen Blick zurück. Der Akrobat war zur Seite getreten, wischte sich den Schweiß von Gesicht und Nacken. Ein überaus dicker Mann mit grasgrüner Weste und ehemals strohgelbem, nun fast ganz ergrautem struppigem Haar, hatte ihm dazu ein vergilbtes Tuch gereicht. Statt der üblichen Kniehosen trug er ausgebeulte, über die Knöchel reichende Beinkleider, deren bessere Tage lange zurücklagen. Nur das Hemd mit den weiten, an den Handgelenken gebundenen Ärmeln leuchtete frisch und weiß.
    Nicht der kuriose dicke Mann, aber der junge Akrobat schien Molly vage vertraut, sein rotes Haar, sein unwilliger Blick, der feste, ein wenig streng wirkende Mund. Sicher war er früher schon in der Stadt aufgetreten, und sie hatte es nur vergessen.
    «Da habt Ihr wahrlich was versäumt, Molly, ich meine: Jungfer Runge. Sicher habt Ihr bald neue Gelegenheit, sie zu sehen, die beiden gehören nämlich zu einer

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