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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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guten Wind zum Auslaufen, den Händlern und Kaufleuten, die auf endlich einlaufende Schiffe warteten, wäre eine die Segel tüchtig blähende Brise natürlich lieber gewesen. Daran dachte Molly nicht, es hätte sie auch wenig gekümmert. Wenn nur jeder seine Arbeit tat, seine persönlichen Aufgaben und Pflichten sorgsam erfüllte, stand es um ein Gemeinwesen aufs Beste. Molly erinnerte sich nicht, wo sie das zuletzt gehört hatte, wahrscheinlich unter der Kanzel. Oder von ihrem Vater? Das war gut möglich, es passte zu seinen Überzeugungen. Meister Runge hatte seine Arbeit stets aufs Beste getan und als ein guter Hausvater für Frau und Tochter, Gesinde, Gesellen und Lehrjungen gesorgt.
    Das tat der neue Meister auch, aber auf andere Weise. Er schuf nicht diese Geborgenheit, die früher im Haus am Rödingsmarkt so selbstverständlich gewesen war, dass sie niemand als etwas Besonderes betrachtet hatte.
    Molly blieb an eine Hauswand gedrückt stehen, um einen mit Stroh und Feuerholz beladenen, von zwei barfüßigen Jungen geschobenen Karren vorbeizulassen. Hätten diese beiden für Meister Runge gearbeitet, hätte er dafür gesorgt, dass sie Holzschuhe bekamen, zumindest gebrauchte, in jedem Fall groß genug, um sie in Frostzeiten mit wärmendem Stroh zu polstern. Molly vermisste ihren Vater, und so würde es bleiben. Selbst wenn ihre Mutter sich für einen anderen Mann entschieden hätte, einen älteren, väterlicheren, wäre es so. Mit dem Tod ihres Vaters hatte Molly zum ersten Mal wirklich erfahren, dass kein Mensch ersetzbar ist. Jemand anders konnte seine Arbeit verrichten, seine Pflichten übernehmen oder für ihn die Stimme erheben, dieses leere Fleckchen jedoch, das er in ihrer Seele hinterlassen hatte, konnte niemand füllen. Manchmal wurde die Sehnsucht, er möge wieder da sein und mit ihm auch das alte Leben, zum bohrenden körperlichen Schmerz. Mit dem Tod ihres Vaters war sie endgültig erwachsen geworden. Was sie als Mädchen nie hatte erwarten können, gefiel ihr nun nicht mehr.
    Sie eilte weiter, ihr gutgefüllter Korb schien ihr heute leicht. Viel Volk war unterwegs, wie gewöhnlich um diese Zeit, und in der Neuen Wallstraße, der elegantesten der ganzen Stadt, rollten besonders viele Kutschen zwischen den Fuhrwerken und Karren. Molly liebte es, an den vornehmen, erst in den letzten Jahrzehnten erbauten Häusern mit den großen und lichten Etagen entlangzugehen. Hier wirkte nichts alt, schmutzig und eng. Am liebsten wäre sie der breiten Straße bis zu ihrem Ende an der Binnenalster gefolgt und über den Jungfernstieg zum Opernhof gegangen, aber sie kannte sich. Auf jenem Weg gab es unterwegs immer so viel zu sehen, die Menschen, die Straßenverkäufer, der wunderbare Blick über den See, die anlegenden Boote – all das lud zum Staunen und Träumen ein, aber dafür waren ihre Vormittage nicht gemacht.
    Also nahm sie den direkteren Weg, passierte zwei schmale Durchgänge und bog in die Straße ein, die man Hinter den Bleichen nannte. Die Wiesen der Bleicher waren schon lange auf das freie Feld außerhalb der Stadtbefestigung verlegt worden, sogar zu lange, als dass Molly noch eine in der Stadt gesehen hätte. Hier verbarg sich zwischen den großen Häusern nur noch der uralte, schon seit Jahren vernachlässigt aussehende Garten der Ratsapotheke. Sonst war hier längst jedes Grundstück eng bebaut. Auch in Straße und Hof, die noch nach den Gerbern benannt waren, fanden sich die Gruben und Werkstätten nicht mehr. Das erbarmungslos stinkende und die Fleete verschmutzende Gewerbe war in die Vorstadt St. Georg und auf den wenig besiedelten Hamburger Berg verbannt worden, einige hatten sich in dem unter dänischer Herrschaft stehenden Dorf Wandsbek angesiedelt.
    [Bild vergrößern]

    Schon klapperten ihre Pantinen munter auf dem zur Neustadt hinüberführenden Holzsteg über das Bleichenfleet. Die kleine, von der Zeit, von Sonne, Wind und Regen verwitterte Madonna, die mit ihrem Kind von einer Nische im Giebel des Eckhauses Neue Gerberstraße auf sie heruntersah, lächelte. Molly war ungezählte Male vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken oder ihr gar Aufmerksamkeit zu schenken. Vor einigen Wochen hatte irgendetwas sie stehen, den Kopf in den Nacken legen und hinaufsehen lassen. Just in jenen Tagen, als sie zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, dass sie nicht mehr Molly heißen wollte.
    Als an jenem Morgen in der vergangenen Woche alle anderen nach dem Frühstück die Küche verlassen hatten, hatte

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