Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
sofort. Es dauerte Monate über Monate, ja sogar Jahre, bis ich mir überlegt hatte, wie ich es ihnen sagen konnte. Ich war mir sicher, dass Amy darüber hinweggehen würde, wenn ich meine schmerzenden Rippen zum allerersten Mal erwähnte. Also nahm ich mir vor, die Sache eine Woche später wieder anzusprechen und einige Tage darauf ein drittes Mal. Ich wollte ab und zu demonstrativ über meine Rippen streichen und irgendwann beichten, wie sehr es tatsächlich wehtat, und dann …
Aber Amy, die gerade das Abendessen zubereitete, fuhr herum, wischte sich die Hände an den Kleidern ab und eilte zu mir.
Ich glaubte, sie würde mein Hemd hochheben, und ich erstarrte. Doch sie wusste es besser, obwohl ich ihr zu jenem Zeitpunkt noch nichts erzählt hatte – rein gar nichts. Sie wusste von Anfang an, wie weit sie bei mir gehen durfte, seit wir uns im Jugendamt zufällig begegnet waren. Ich frage mich manchmal, ob sie das, was ich ihr danach Stück für Stück erzählte, nicht schon von Anfang an geahnt hatte. Vielleicht. Nicht, dass sie Einzelheiten gekannt hätte, aber sie ahnte schon an dem Tag, als ich zu ihnen kam, mehr als genug .
Sie berührte mich also nicht, sondern hockte sich vor meinen Stuhl. »Zeigst du es mir, Evie?«, fragte sie.
Ich zog mein Hemd hoch. »Hier. An dieser Stelle wackelt es«, sagte ich. »Fühl mal«, sagte ich und forderte sie mit einer Bewegung auf, mich zu betasten.
Fünf Minuten später war der Hausarzt unterwegs. Er kam im Handumdrehen. Danach wusste ich, dass ich Amy vertrauen und ihr bestimmte Dinge erzählen konnte. Ich wusste, dass sie verstand – auch das, was ich verschwieg.
So ist sie.
Und genau das mag ich am liebsten an ihr: Amy versteht sogar das, was ich nicht aussprechen kann, ohne dass der Schmerz wiederkehrt, dumpf und dreckig und tief wie ein wiederholt gebrochener Knochen. Manches muss man für sich behalten. Man darf es nicht unverblümt und unumwunden erzählen. Nein, man muss es umschreiben. Lücken und Leerstellen lassen. Andere Wörter dafür benutzen, umständlich und verschlungen erklären. Auf jeden Fall, was die schlimmsten Dinge betrifft. Sie müssen in einer Art Nebel bleiben. Wörter sind gefährlich. Wie ein Zauberspruch – wenn man den Nebel benennt, jene Wörter heraufbeschwört, die ihn klar und deutlich beschreiben, dann verwandelt man ihn in etwas Festes, das man eigentlich nie in den Händen halten dürfte. Nein, er muss wie Wasser sein, das zwischen den Fingern durchrinnt.
»Warum willst du den … den Drachen denn unbedingt an einer Halskette befestigen, Ben?«, fragt Amy. »Du und Evie, ihr findet das vielleicht lustig, aber auf andere Leute könnte es morbide wirken.«
»Vielleicht auf Dummköpfe wie dich«, erwidert Onkel Ben. »Nein, auch wenn andere Leute nicht begreifen, was daran so lustig ist, werden sie die wunderschöne Schnitzarbeit betrachten, die deine begabte Tochter – mit Hilfe meiner Wenigkeit – vollbracht hat, und sie werden ein Kunstwerk darin sehen.«
»Ein ziemlich schräges Kunstwerk«, wirft Paul ein, weil Amy ihn flehentlich anschaut.
Ein Kellner erscheint, und Amy, Paul und Onkel Ben streiten sich darum, wer die Rechnung bezahlt … Bis Onkel Ben wieder einfällt, dass er die Kreditkarte gleich beim Hereinkommen vorn auf dem Tresen dem Kellner gegeben hat. Ich wiege die Glückskekse, die auf dem kleinen Tablett mit der Rechnung gebracht wurden, in einer Hand, um den vielversprechendsten zu finden.
»Und? Welcher ist der beste?«, fragt Paul, der sich vom Kellner abwendet und Amy und Onkel Ben ihrem Streit überlässt. Die beiden werden wahrscheinlich noch auf dem Weg zum Auto darüber diskutieren.
Ich schiebe die übrigen, in Folie verpackten Kekse grinsend zu ihm hin, wickele meinen Keks aus und beiße hinein.
»Oh, weisestes aller Orakel! Großes Orakel! Verrate uns, du mächtigstes Orakel auf Erden, was die Zukunft bringt!«, ruft Onkel Ben.
»Das Feuer der Träume wärmt die Seele. Lass dich von ihnen leiten.«
Onkel Ben schürzt die Unterlippe und nickt wissend. »Bei mir funktioniert das. Und nun, hohes Orakel, enthülle mir meine Geschicke.«
Ich grinse und reiße die Folie seines Kekses auf. »Wenn sich eine Gelegenheit bietet, ergreife sie beim Schopf.«
Amy stöhnt. »Als ob mein Bruder Ermutigung bräuchte.« Aber sie lächelt, als sie mir ihren Keks hinschiebt.
»Ein Freund ist ein Geschenk, das du dir selbst machst«, lese ich.
»Ach, das gefällt mir«, sagt Amy erleichtert. Denn
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