Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
eingehüllt zu sein. Der Nebel umwallt meine Taille, als ich auf die Felder zugehe, ohne die schwankende Grenze zwischen dem dichten, wogenden Grau und der feuchten, dunklen Nacht aus den Augen zu lassen. Im Nebel könnte sich alles Mögliche verbergen, und er taucht alles, was zu einer gewöhnlichen Marschlandnacht gehört, in ein ungewohntes Licht, verwandelt das Vertraute in eine fremde Welt, in der nichts mehr ist, was es zu sein scheint – denn die Dinge verändern sich unaufhörlich, wechseln ihre Gestalt, widersetzen sich allen Regeln.
Und es gibt so viel zu fühlen und zu riechen, zu sehen und zu hören und zu schmecken, dass ich vergesse, was mich plagt. Die Vielfalt des Hier und Jetzt lässt keine Schmerzen zu. Ich fühle mich plötzlich leicht.
Und habe das Gefühl, Licht einzuatmen.
Ich löse mich auf, in den Nebel hinein, werde zu nichts. Finde endlich Erleichterung. Als würde sich die Welt nicht mehr drehen, als würde es doch noch einen Ort außerhalb der Zeit geben, an dem nicht jeder Atemzug Leid um Leid, Schmerz um Schmerz bedeutet.
Der Drache atmet leise und zufrieden, schnurrt fast. Wir gehen weiter.
Als wir schließlich zum Kanal zurückkehren, ist der Nebel dicht und schwer, brodelt auf den Feldern, quillt über die Ufer, wirbelt und wabert auf dem trägen, dunklen Wasser. Ich muss lachen und drehe mich mit gereckten Armen im Kreis, bis der Wind abflaut und der Nebel sich auflöst und grau zum Fluss schlängelt. Ich halte stolpernd inne, sehe benommen zu, wie sich grau-grüner Dunst in die Höhe schraubt, als wollte er zum Abschied noch einmal kurz winken.
Morgens, beim Erwachen, rechne ich damit, müde zu sein. Doch ich fühle mich leicht und erfrischt. Dieses Mal traue ich mich, den Schrank zu öffnen und nach den darin versteckten Turnschuhen zu schauen. Sie sind feucht und riechen nach Erde.
»Und zum Schluss noch ein Toast. Auf meine schöne, kluge Nichte. Die einmalig ist. Und wahrscheinlich die einzige Person auf der Welt, die, nachdem sie zu Ruhm gelangt ist, auf den Vorwurf eines Reporters, Knochenschmuck sei Tierquälerei, mit Fug und Recht erwidern kann: ›Es ist mein Knochen. Ich darf also damit tun, was mir gefällt!‹«
»Ben!«, sagt Amy vorwurfsvoll und verzieht angewidert den Mund.
Paul klopft Onkel Ben lachend auf die Schulter. »Ja, auf unser einmaliges Mädchen«, sagt er und hebt das Glas. »Herzlichen Glückwunsch zum Adoptionsgeburtstag.«
Ich muss grinsen und stibitze Amys Glas, um mit ihm anzustoßen. Genau genommen ist es nicht mein richtiger Adoptionsgeburtstag, aber wir fanden, dass der Tag, an dem die Papiere endlich eintrafen, nicht so wichtig war. Das dauerte sowieso über ein Jahr, denn es ist ein irrer Aufwand, bis so etwas rechtlich abgesegnet wird. Entscheidend ist der Tag, an dem ich zu Amy und Paul gezogen bin. Schließlich zählt die ganze Zeit, die ich bei ihnen bin.
»Evie, mein Liebes«, sagt Amy unbehaglich, »ich finde, du solltest nicht …«
»Einmal nippen kann nicht schaden«, erwidere ich. »Aber gut – dann stoße ich eben mit Wasser an.«
Sie schüttelt den Kopf und lächelt, als ich ihr Glas wieder hinstelle. »Ich bin stolz auf dich, Evie. Du warst so tapfer«, sagt sie. Amy sagt so etwas mit schöner Regelmäßigkeit, und sie sagt es, ohne dabei rot zu werden. Vielleicht mag ich das am liebsten an ihr. Entweder das oder die Tatsache, dass sie alles, wirklich alles für mich tun würde. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn ein Auto versuchen würde, mich zu überfahren, würde sie sich davorwerfen. Wenn ich krank wäre und sie mich mit Geld wieder gesund machen könnten, würden sie und Paul dafür das Haus und alle Habseligkeiten verkaufen.
Zu Anfang der Adoption, während der Probezeit, bildete ich mir ein, die Abmachung zu kennen: Ich würde bei ihnen leben und nach einer Weile irgendwie zu ihnen gehören, ohne dass sie wirklich meine Eltern wären. So würde es sein, dachte ich. Doch es kam anders. Im Falle von Amy und Paul kam es tatsächlich anders. Mir dämmerte schon nach einem knappen Jahr, dass sie, wenn ich sie nervte, keine Sekunde daran dachten, dass sie es eigentlich gar nicht nötig hatten, sich mit mir auseinanderzusetzen – dass sie mich einfach zurückbringen, mich jederzeit loswerden konnten. Darauf kamen sie gar nicht. Das wusste ich. Und da begriff ich auf einmal, dass ich ihnen von meinen kaputten Rippen erzählen konnte, davon, dass sie wackelten und wehtaten.
Ich erzählte es natürlich nicht
Weitere Kostenlose Bücher