Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
sie ist sehr abergläubisch, geht nicht unter Leitern durch und sagt beim Anblick einer einzelnen Elster immer: ›Hallo, mein Herr, wo ist Ihre Dame?‹ Ich muss jedes Mal lachen, und vielleicht sagt sie es ja genau deshalb.
Paul legt einen Arm um meine Schultern und schiebt seinen Kopf dicht neben meinen, während wir seinen Spruch lesen. »Du bist fast am Ziel«, lese ich vor.
»Na großartig«, sagt Paul. »Das erspart mir die demütigende Frage nach der Richtung.«
»Heho, einer ist noch übrig. Als Opfer für das Orakel«, sagt Onkel Ben und wirft mir den letzten Keks quer über den Tisch zu.
»Den musst du nicht mehr aufbeißen«, sagt Paul, denn nach dem Öffnen der Folie krümelt mir der Keks entgegen. »Wie lautet der abschließende Spruch?«
»Entschlossenheit ist jetzt erforderlich.«
Paul erstarrt, aber es ist Onkel Ben, der tief seufzt und sagt: »Tja, so bist du für dein ganzes Leben gewappnet, Evie.« Er grinst jedoch weder, noch zieht er eine Augenbraue hoch, sondern er klingt müde. Erschöpft. Als wäre der Spruch keine Ermutigung, sondern eine Bürde. Als würde er mir lieber etwas anderes wünschen.
Ich drehe mich stirnrunzelnd zu Paul um. Er zieht mich an sich, drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Die Welt kann von dir lernen, was es heißt, Entschlossenheit zu zeigen«, sagt er. »Du erstaunliches Mädchen.«
Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals. Also senke ich den Blick auf den Spruch und greife nach dem Drachen. Der Knochen erwärmt sich in meiner Hand.
»Das war ein sehr, sehr leckeres Essen, Ben. Aber du musst aufhören, uns ständig einzuladen«, sagt Amy fröhlich. »Mein Magen platzt gleich, und ich glaube, ich muss jetzt zu Bett.«
»Dem kann ich nur zustimmen«, sagt Paul und reibt beim Aufstehen seinen Bauch.
Während Amy und Paul unsere Mäntel holen, lehne ich mich gähnend gegen Onkel Ben. Er zerzaust mein Haar und greift dann über mich hinweg zum Tresen, um ein Pfefferminz aus der goldfischglasartigen Schüssel zu fischen.
»Möchtest du auch eines?«, fragt er.
Ich schüttele den Kopf und sehe zu, wie er ein zweites nimmt, in die Luft wirft und mit dem Mund auffängt.
»Ben!«, rügt Amy ihn und verdreht die Augen. »Musst du Amy denn immer Blödsinn beibringen?«
Onkel Ben verzieht das Gesicht. »Nein. Wohl nicht. Aber ich weiß nicht … Es könnte schmerzhaft, vielleicht sogar gefährlich sein …«
Amy wirft ihm den Mantel zu.
»Aber vielleicht kann ich dich ja dazu bringen, Evie noch größeren Blödsinn beizubringen«, sagt er fröhlich. »Ja, das würde mir vielleicht gelingen.«
»Bestimmt«, erwidert Amy, doch sie lächelt. Der Wein hat ihre Wangen gerötet.
Ich gähne wieder und stütze mich auf den Tresen. Neben dem Goldfischglas steht ein kleines Tablett mit Visitenkarten und Streichholzbriefchen. Ich klappe eines auf und streiche mit einem Finger über die roten Schwefelkappen.
»Willst du die Streichhölzer etwa mitnehmen, Evie?«, fragt Amy besorgt.
»Nur als Andenken«, sage ich, klappe das Briefchen zu und stecke es ein.
»Ich halte das für kein gutes Souvenir, mein Liebes. Du hast doch den Spruch aus dem Glückskeks.«
Onkel Ben verdreht die Augen und legt Amy einen Arm um die Schultern. »Liebste Schwester, bitte hör auf, meine Nichte zu nerven. Diese Streichhölzer taugen sowieso nichts. Und was soll schon passieren?«
»Aber was, wenn …«
»Diese billigen Streichhölzer kann man nicht mal anreißen, Amy.«
Amy schaut zu Paul. Er sagt grinsend: »Du Angsthase.«
Amy entspannt sich, nimmt ihm meinen Mantel ab und hilft mir hinein.
»Keine Bange«, sage ich. »Ich werde unser Haus schon nicht abfackeln. Versprochen.«
Während ich Amy nach oben folge, klingelt das Handy von Onkel Ben. Ich höre ihn sagen: »Am Apparat«, höre aber auch die unausgesprochenen Fragen heraus: »Wer ist dran? Was ist los?« Doch es ist der Satz: »›Schaden‹? Wie meinen Sie das?«, der auch Amy bremst.
»Alles in Ordnung, Ben?«, ruft sie und geht die Treppe wieder hinunter.
Er dreht sich zu ihr um, ohne sie wirklich wahrzunehmen – er sieht an uns vorbei, schaut sehr grimmig drein. Dann blinzelt er, richtet den Blick auf Amys Gesicht. »Oh«, sagt er und blinzelt wieder. »Ja. Ja, alles in Ordnung«, sagt er zu uns. »Bleiben Sie dran«, spricht er ins Handy und drückt es dann gegen seine Brust. »Kein Grund zur Sorge«, sagt er lächelnd zu Amy. »Ab ins Bett mit euch.«
Danach wendet er sich wieder ab. »Entschuldigung,
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