Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Dämmerzustand verharrt.
Ich drücke mich gegen den Fensterrahmen, schiebe den Vorhang ein klein wenig auf.
»Warum bleiben wir im Garten?«, höre ich jemanden so laut flüstern, dass ich mich frage, warum sie so heimlichtun. »In der Küche wäre es wärmer.«
»Ich will Amy nicht wecken«, flüstert jemand ebenso laut.
»Glaubst du allen Ernstes, meine Schwester würde schlafen?« Das ist Onkel Ben. Und Paul.
»Ich möchte nicht, dass sie mithört«, gesteht Paul.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Onkel Ben aufseufzt, aber weil ich das Fenster nicht zu öffnen wage, kann ich das nicht hören. »Und Evie?«
Ich drücke mich gegen die Wand neben dem Fenster, obwohl sie mich ganz sicher nicht sehen können.
»Evie scheint zum Glück kein solcher Angsthase zu sein wie Amy«, sagt Paul. »Außerdem ist ihr Fenster zu. Wir können sie also nicht wecken, wenn wir reden.«
»Erstaunlich, dass Amy nicht nach unten geschlichen ist, um nachzuschauen, ob wir tödlich verwundet worden sind …«
»Genau darum haben wir ja zwei Häuser weiter geparkt und sind von hinten gekommen, nicht durch die Haustür«, unterbricht Paul ihn, dieses Mal in normaler Lautstärke. »Gut möglich, dass sie über ihren Sorgen eingeschlafen ist. Ich hoffe, dass ich ihre Nachfragen auf morgen früh verschieben kann.«
»Aber was wirst du ihr erzählen?«
»Das, was ich vorhin schon gesagt habe. Außerdem, dass du der Nachbarschaftshilfe beitreten willst und dass ich dich auf deinen Runden als Verstärkung begleite.«
»Du solltest trotzdem mit Evie reden.«
Ein kurzes Schweigen.
»Sie würde es verstehen, Paul. Sie ist alt genug. Und es könnte ihr helfen, auf indirekte Art. Dir würde es auf jeden Fall helfen.«
»Glaubst du wirklich, es würde etwas bringen, sie in die Sache reinzuziehen?«
Ich kann das Schnauben sogar durch das Fenster hören. »Amy würde dem nicht in einer Million, ja nicht mal in einer Trillion Jahre zustimmen.« Noch ein Schweigen. »Du weißt, dass ich nicht davon rede, Evie mitzunehmen. Und ich bin ganz deiner Meinung – wir müssen es vor Amy verschweigen. Aber ich finde, Evie ist ein anderer Fall.«
»Evie braucht nichts von meinen Sorgen zu wissen. Sie hat genug – mehr als genug – eigene.«
Danach sind sie eine ganze Weile stumm. Schließlich sagt Onkel Ben, er wolle jetzt aufbrechen, und ich kann hören, wie er um die Hausecke biegt und wie Paul die Hintertür aufschließt.
Ich lasse den Vorhang zufallen und krieche wieder ins Bett, lehne mich gegen das Kopfteil und setze den Drachen auf ein Knie.
»Glaubst du, dass Paul auf Onkel Ben hört und mir erzählt, was los ist, wenn ich ihn danach frage … Nein, ich darf nicht zu direkt fragen und nicht nachbohren. Aber ich könnte ihm, wenn Amy nicht da ist, immer wieder die Gelegenheit bieten …«
Wir müssen vorsichtig sein , sagt der Drache. Ich warte, aber er schweigt. Während ich eindämmere, beobachte ich seinen durch die Luft zuckenden Schwanz und frage mich, ob er besorgt oder frustriert, aufgeregt oder konzentriert ist.
Der Drache schmiegt sich schnurrend gegen meinen Hals, während ich langsam auf dem Treidelpfad radele.
Ich wünschte, ich könnte den Geruch des Marschlands beschreiben. Man muss sich die trägen, dunklen, schwer zwischen Gräsern und Schilf liegenden Wasser vorstellen – man muss sie im Geist vor sich sehen. Jetzt muss man sich vorstellen, dass dieses Bild ein Geruch ist. Erde und Wasser und Fäulnis und Wachstum, alles in Verbindung mit einem Geheimnis, mit etwas, worauf man den Finger nicht legen, das man nicht festnageln kann. Man kann es, um genau zu sein, weder sehen noch riechen noch berühren. Wenn man alle Sinne schärfen und das schmecken würde, was man hört, das riechen würde, was man sieht … dann könnte man den Duft dieses Geheimnisses vielleicht erfassen.
All das erzähle ich dem Drachen nicht, kann aber spüren, wie er sich amüsiert.
Wir biegen vom Treidelpfad auf einen holperigen Feldweg ab. Auf der einen Seite glitzert flaches, eisiges Wasser auf einem Acker. Auf der anderen Seite welken sommergoldene Gräser, werden braun. Ich lasse das Fahrrad rumpelnd ausrollen, lehne es gegen einen Zaunpfahl und klettere auf die oberste Latte. Der Tau zeichnet im Farnkraut ein paar Spinnweben nach.
»Glaubst du, dass sie teilen?«, frage ich den Drachen. »Ihre Beute, meine ich? Glaubst du, eine Spinne gibt einer anderen etwas ab, wenn diese nichts gefangen hat?«
Der Drache erklärt, dass
Weitere Kostenlose Bücher