Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
er zu seiner Tante Mabel unterwegs war, und die lebte als Vogel im Wasser. Er hat mir alles Mögliche erzählt, denn er war ein sehr netter, höflicher Fisch …«
»Hat er dich jemals gefragt, warum du auf das Dach geklettert bist?«
Ich schüttele den Kopf – so leicht mache ich es ihr nicht – und lächele. »Natürlich nicht! Wie gesagt: Er war ein sehr höflicher Fisch. Eine solche Frage hätte er mir nie gestellt. Außerdem habe ich die ganze Zeit seinen Geschichten über seine Tante Mabel gelauscht.« Ich rede immer schneller – so schnell, dass eine Unterbrechung unhöflich wäre. »Einmal hat er mich eingeladen, ihn zum Unterwasserhaus seiner Tante zu begleiten und dort eine Tasse Tee zu trinken …«
Ich verstumme, denn so viel wollte ich eigentlich nicht erzählen. Es rührt an all das, was ich in mir verschließe.
»Und? Hast du ihn begleitet?«
»Natürlich nicht!«, sage ich so verächtlich wie möglich, damit sie nicht merkt, wie tonlos ich plötzlich klinge. »Ich wusste ja nicht, wie man am Himmel schwimmt!« Aber ich habe es damals erwogen. Habe überlegt, ob es einen Versuch wert wäre, ob ich es einfach mal probieren sollte. Denn ansonsten konnte ich wieder nur bis zum allerletzten Moment auf dem Dach bleiben, so lange, bis ich wieder ins Haus musste.
Aber ich blieb auf dem Dach. Und schließlich ging ich wieder ins Haus. Das habe ich mir nie ganz vergeben.
Die Schuppen bedecken jetzt alle Beine des Drachen und auch den Rücken mit der Reihe kleiner Zacken. Ich habe Klauen in die winzigen Füße des Drachen geschnitzt, indem ich das Werkzeug immer wieder darübergezogen habe. Oben auf dem Kopf habe ich die Ohren herausgearbeitet, sie sind klein, aber lang, liegen spitz zulaufend auf dem Nacken. Der Unterkiefer ist kantig, sowohl an den Ecken als auch weiter hinten auf den Wangen. Die Nüstern verengen sich vorn auf der Schnauze zu schmalen Schlitzen, und das Maul zieht sich bis zu den katzenartigen Augen. Ja, die Augen erinnern mich an die einer Katze – wie eine Träne mit zwei Spitzen, eine zum Ohr hin, eine zur Schnauze. Wenn man eine Katze mit einer Eidechse kreuzen würde, käme dies dabei heraus: jede Linie ein Paradebeispiel für Macht und Arroganz, schön bis an die Grenze zur Grausamkeit.
Der Drache sitzt auf meiner Hand, bläulich im Mondschein, und im Hintergrund surrt leise der Kassettenrecorder. Der Zauberer schenkt sein Herz gerade einer Sternschnuppe, um diese in einen Feuerdämon verwandeln zu können. Ich würde mein Herz auch herschenken, um den Drachen zum Leben zu erwecken. Ich würde es bereitwillig hergeben, wenn ich mich dadurch so eng mit etwas so Wunderbarem verbinden könnte.
Die Sehnsucht schnürt meine Kehle zu, und als ich schlucke, schmerzen Narbe und Rippen. Was am meisten schmerzt, ist das Gefühl, dass mir etwas fehlt: Ich habe einen Teil von mir verloren; an dieser Stelle, ein paar Zentimeter unterhalb des Herzens, ist mir etwas abhandengekommen.
Ich fahre nachts manchmal im Bett auf und krümme mich zusammen, als wollte ich diese Leerstelle beschützen, die Stelle, wo ich am verletzlichsten bin, verletzlicher denn je – auf Grund der Lücke in der Rüstung meines Brustkorbs, dort, wo das gebrochene Rippenstück entfernt wurde.
Ich erinnere mich nie an den Albtraum, der mich so unsanft aus dem Schlaf reißt. Kein einziges Mal. Wenn mich der blitzartige Schmerz trifft, gilt meine Aufmerksamkeit immer erst meinen Rippen, weil ich den Schmerz ermessen will, und dann der Notwendigkeit, ruhig zu liegen.
Der Mond scheint auf das Fußende des Bettes. Die Decke wird hell und wieder dunkel, hell und wieder dunkel. Ich komme langsam, ganz langsam auf die Knie, rutsche nach vorn, bis ich aus dem Fenster schauen kann. Die Wolken sind finstere, über den Himmel fliehende Fetzen, aber wenn sie am Mond vorbeiziehen, leuchten sie auf – in fahlem Blau, Grün und Gelb – und scheinen sich aufzulösen. Aber nur ganz kurz.
Der auf meiner Handfläche ruhende Drache betrachtet mich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Dann sind alle Wolkenfetzen wie weggeblasen, und nur der Mond steht am leeren Himmel. Zwischen den nadelspitzen Sternen wirkt er sehr schwer.
Die Kassette hält knirschend an. In der Stille überrascht mich das Echo eines Liedes: » When you wish upon a star …« Und ich habe auf einmal eine Kinoleinwand vor Augen, sehe, wie eine blau-weiße Fee durch Gepettos halbdunkles Geschäft schwebt. Fiona sitzt links von mir – im Kinosessel –,
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