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Die Nacht in Issy

Die Nacht in Issy

Titel: Die Nacht in Issy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Borell
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nach rechts ab und setzte mich auf eine Bank an der Fontaine Médicis, deren dicker Wasserstrahl in der untergehenden Sonne aufleuchtete.
    Wie oft war ich hier als Gymnasiast und später als Student gewesen! Damals hatte ich wohl meinen jeweiligen Freundinnen von meinen großen Zukunftsplänen erzählt. Ein berühmter Kunsthändler hatte ich werden wollen, wie mein Vater einer war. — Aus! — Jetzt saß ein Zuchthäusler hier.
    Ich hatte noch reichlich Zeit, da ich Pierre doch nicht vor sechs Uhr antreffen würde, aber ich wollte doch nicht länger sitzenbleiben; die Untätigkeit zwang mich zum Denken, und das wollte ich nicht. Wenigstens nicht an die Vergangenheit. Dafür fing ich an, mich desto eingehender mit der Zukunft zu beschäftigen.
    Während ich durch die Anlagen bummelte, ging ich meinen ganzen Plan nochmals in Gedanken durch.
    Ich weiß nicht genau, ob ich vor vier Wochen, als ich in Paris ankam, schon die feste Absicht hatte, Alexandre Bouchard umzubringen; heute aber kam es mir so vor, als hätte ich diese ganzen neun Jahre von nichts anderem geträumt. Ich hatte, als ich nach Paris kam, keine Ahnung, wo er lebte und was er trieb. Aber schon wenige Tage später war ich auf seine Spur gekommen, und dann hatte ich ihn beobachtet, Tag für Tag und viele Nächte lang. Ich wußte so ziemlich, mit wem er verkehrte und wie seine Gewohnheiten waren. Es war nicht schwer, ihn zu töten; und wenn es nicht mit dem Teufel zuginge, konnte kein Mensch dahinterkommen, daß es kein Unfall war.
    Ich hatte den Jardin du Luxembourg hinter mir und stand vor dem Haus, das meinem Vater gehört hatte, in dem ich geboren und aufgewachsen war. Es war das Haus an der Ecke des Boulevard Saint Michel und der Rue Soufflot, die zum Panthéon hinaufführte. Die Schaufenster mit den Kunstgegenständen und Antiquitäten, die hier ausgestellt waren, schienen noch immer die gleichen zu sein, aber der Name war ein anderer. Eine ungeheure Wut auf Alexandre stieg in mir hoch, und nur der Gedanke, daß ich ihn noch in dieser Nacht ins Jenseits befördern würde, beruhigte mich ein wenig.
    Es war nun Zeit, Pierre aufzusuchen. Pierre war ein Spezialist für falsche Papiere, Gustave hatte ihn mir vermittelt.
    Ich bog vom Boul Michel in den Germain, und dann ging ich in die Rue de la Harpe hinab. Auf der linken Seite, ziemlich weit unten, lag ein kleines Lokal, das den Namen »Au Renard qui prêche aux poules« trug. Es war um diese Zeit fast leer.
    »Guten Abend, Estelle«, sagte ich zu dem Mädchen, »ist Pierre schon da?«
    »Nein, aber er muß jeden Augenblick kommen. — Was zu trinken?«
    »Ja bitte! Einen Moulin à Vent.«
    Sie brachte den Wein, und ich trank ihn in einem Zug aus.
    »Noch einen.«
    Sie machte große Augen.
    »Solchen Durst?«
    »Kein Wunder bei der Schwüle.«
    Sie brachte das zweite Glas, aber nun trank ich langsam. Ich wollte mich nicht betrinken und dann vielleicht irgendeine Dummheit machen.
    Ich dachte wieder an Alexandre Bouchard. Er wohnte draußen in Issy, direkt am Park, in der Route des Moulineaux. Er hatte dort ein kleines, modernes Haus für sich allein. Ich hatte ihn nie abends in Begleitung nach Hause kommen sehen. Nur vormittags kam eine ältere Aufwartefrau.
    Er hatte es in den neun Jahren meiner Abwesenheit weit gebracht: Er war Generaldirektor der Union-Motors in Paris, ein sehr angesehener Mann und, wie man mir erzählte, eben im Begriff, auch politisch eine Rolle zu spielen. Er hatte eine Freundin, mit der er gut auszukommen schien; jedenfalls hatte ich ihn einige Male mit ihr ausgehen sehen.
    Einmal in der Woche, jeden Freitag, besuchte er einen Herrenklub, von wo er jedesmal sofort nach Hause fuhr. Da der Klubabend um halb zwölf Uhr nachts beendet war und Alexandre für die Heimfahrt etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten brauchte, kam er kurz vor Mitternacht zu Hause an. Auf diese Gewohnheit hatte ich meinen Plan aufgebaut. Es war jetzt kurz nach sechs, ich hatte also noch fast sechs Stunden Zeit.
    Estelle kam zu mir an den Tisch.
    »Er sagte nicht, daß er heute später kommen würde«, erklärte sie, »noch ein Glas?«
    Ich hatte, ohne daß ich es gemerkt hatte, mein Glas geleert.
    »Mal sehen«, sagte ich und holte den Rest meines Geldes aus der Tasche. Estelle half mir zählen.
    »Zehn Francs brauche ich noch«, sagte ich, »den Rest kann ich vertrinken.«
    Es reichte gerade noch für ein drittes Glas.
    Estelle stellte es vor mich hin. Ich schaute mich um und stellte fest, daß niemand in

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