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Die Nacht in Issy

Die Nacht in Issy

Titel: Die Nacht in Issy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Borell
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anderthalb Stunden brauchte ich nicht für den Weg nach Issy, wenn ich gemütlich ging.
    Ich ging langsam durch die Stadt und kam kurz nach acht Uhr beim Gare de Grenelle an der Seine heraus. Ich brauchte jetzt nur noch den Fluß abwärts bis zur Ile St. Germain zu gehen und dort links nach Issy abzubiegen.
    Am Port de Javel setzte ich mich auf eine Bank, um den Mädchen zuzuschauen, die hier promenierten. Ich hatte in diesen letzten vier Wochen manches hübsche Mädchen gesehen. Aber es war nicht so, daß es nun unbedingt irgendeine Frau sein mußte.
    Germaine Mignard zum Beispiel hätte mir auch gefallen. Sie wohnte in der gleichen Straße, wo Alexandre sein Büro hatte, nur vier Häuser weiter, und Alexandre ging jeden Nachmittag zu ihr zum Teetrinken. Sie mochte zwischen zwanzig und dreißig sein, und ich hatte mir oft überlegt, ob sie ihn wirklich liebte. Ich hatte mich überall genau erkundigt. Sie tat mir leid, denn sie liebte ihn, und vermutlich hatte sie keine Ahnung von seinen dunklen Geschäften. Ich hatte auch herausgebracht, daß ihr Vater ein ziemlich einflußreicher Mann sein sollte und daß sie ihr Elternhaus verlassen hatte. Alexandre bezahlte ihr die Wohnung.
    Ein Geistlicher schreckte mich aus meinen Gedanken auf.
    »Ist es gestattet?« fragte er. Die Bänke waren alle besetzt, nur auf meiner war noch Platz.
    »Bitte sehr!«
    Er setzte sich. Eins der Mädchen schlenderte aufreizend langsam an uns vorbei, maß uns mit einem spöttischen Blick und wandte lächelnd den Kopf ab.
    Meine Blicke begegneten denen des Geistlichen.
    »Dagegen«, sagte ich, »ist nichts zu machen. Es liegt in der Natur der Menschen.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich verurteile die Mädchen, aber noch mehr die Männer; denn das sind die eigentlichen Schuldigen.«
    »Die Schuldigen?« fragte ich. Und dieses Wort grub sich in mir ein. »Die Schuldigen? Wissen wir denn immer genau, wer schuldig ist?«
    »Wissen nicht immer«, sagte er, »aber doch wohl fühlen.«
    »Die Gesetze«, entgegnete ich, »wollen von Gefühlen nichts wissen. Sie haben ihre Buchstaben. Das Gesetz ist wie eine Maschine.«
    Er lächelte.
    »Maschinen sind immer objektiv. Sie funktionieren, oder...«
    »...oder nicht. — Würden Sie mir eine Frage beantworten?«
    »Wenn ich es kann, warum nicht?«
    »Nehmen Sie an, ein Mensch sei zu einer Strafe verurteilt worden, für eine Tat, die er in Wirklichkeit gar nicht begangen hat. Er verbüßt diese Strafe und begeht dann hinterher die Tat, für die er seine Strafe bereits unschuldig verbüßt hat. Ist dieser Mensch dann schuldig?«
    Er dachte eine Weile nach, dann nickte er.
    »Zweifellos. Wenn die Justiz sich geirrt hat, gibt ihm das allein kein Recht, neues Unrecht zu tun.«
    Er sah mich von der Seite an.
    »Außerdem«, fuhr er fort, »ist die Justiz ja auch bereit, einen Irrtum einzusehen und dem Unschuldigen Genugtuung zu geben.«
    »Und wie«, fragte ich, »stellen Sie sich eine Genugtuung für neun abgesessene — unschuldig abgesessene Zuchthausjahre vor?«
    Statt einer Antwort griff er in die Tasche und holte ein kleines Kärtchen daraus hervor. Er reichte es mir und sagte:
    »Wenn Sie Lust haben, können wir uns einmal ausführlich über dieses Thema unterhalten. Hier ist wohl nicht der richtige Ort dafür.«
    Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich drückte sie ihm, und er sagte:
    »Man kann auch zu mir kommen und mir Dinge anvertrauen, die ein Geheimnis bleiben sollen. — Auf Wiedersehen!«
    »Guten Abend!« erwiderte ich. Damals glaubte ich, daß ich ihn nie mehr wiedersehen würde.
    Es war noch nicht völlig dunkel, und ich hatte reichlich Zeit. Langsam wanderte ich den Quai entlang. Eine Weile schaute ich zu, wie die Lastschiffe entladen wurden. Hier, am Port de Grenelle, wurde Tag und Nacht gearbeitet.
    Ich wollte nicht vor elf Uhr in Issy sein. Das Gespräch mit dem Pfarrer hatte mich aufgewühlt.
    Vier Wochen lang hatte ich nur mit Menschen wie Gustave oder Pierre zu tun gehabt, und mein Schicksal war mir ganz natürlich erschienen. Man hatte mich in die Klasse dieser Menschen gestoßen — gut, dann war ich eben drin. Und nun plötzlich hatte jemand mit mir gesprochen, ein Mensch aus einer andern Welt, meiner früheren Welt. Ich hatte keine Hoffnung, aber auch kein Verlangen mehr gehabt, jemals wieder dorthin zurückzukehren. Nun aber regte sich in mir das Gefühl, als sei doch noch ein Weg da, der mich zurückführen könnte.
    Wenn ich mir diesen Abend heute nochmals vergegenwärtige,

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