Die Nacht in Issy
lauernden Glanz.
»Eine dicke Sache?« fragte sie. »Wird es viel einbringen?«
»Nicht sehr viel. Nur gerade soviel, daß ich danach über die Grenze komme und irgendwo ein neues Leben anfangen kann.«
Sie lachte.
»Ein neues Leben! — So ein Quatsch. Du willst uns bloß nichts davon abgeben, wie?«
»Ich werde nicht vergessen, daß ihr mir geholfen habt.«
Sie nahm den Eimer mit dem Schmutzwasser und ging damit hinaus.
Ich trat an die Dachluke und beugte mich hinaus; sie war gerade so groß, daß ich Kopf und Schultern durchschieben konnte.
Vor mir lagen, im Dunst des nahenden Abends, die Dächer von Paris. Das Haus, unter dessen Dach ich seit meiner Entlassung aus dem Zuchthaus in Lyon, zusammen mit Gustave und seiner Frau, lebte, lag in der Rue des Fourneaux, nicht weit von deren Einmündung in die Rue de Vaugirard. Vor mir sah ich, im Garten des >Hospital des Enfants Malades<, die kranken Kinder spielen, und dahinter erhob sich im Dunst der Eiffelturm. Es war eine ruhige Gegend; nur ab und zu zerriß ein Lokomotivenpfiff vom nahen Gare Montparnasse die Stille.
Hinter mir ging die Tür, und ich hörte, wie Dedé den Eimer hart aufstellte. Dann kam sie und patschte mir mit ihrer schwammigen Hand auf die Schulter.
»Ich habe es nämlich satt«, erklärte sie, »diese dauernde Angst. Seit Gustave wieder da ist und in den Hallen arbeitet, brauche ich nicht jedesmal zu erschrecken, wenn jemand die Treppe heraufkommt.«
Ich drehte mich um und nickte ihr zu.
»Das kann ich gut verstehen, Dedé. — Übrigens gehe ich morgen.«
»Morgen? — Morgen schon?«
»Ja. Wahrscheinlich schon heute nacht.«
Das Feuer brannte endlich, und sie stellte Wasser auf. Dann setzte sie sich an den Tisch und stützte den Kopf auf die Ellenbogen.
»So plötzlich«, sagte sie, »das heißt also, daß du heute nacht etwas vorhast. — Weiß Gustave davon?«
»Noch nicht. Ich habe mich erst heute dazu entschlossen.«
»Hm! — Ist es gefährlich? Wenn es sich lohnt, könnte Gustave dir helfen.«
Ich hatte noch zwei Zigaretten in der Tasche, zog eine heraus, brach sie durch und gab ihr die Hälfte. Eine Weile rauchten wir schweigend, dann fragte sie wieder: »Ist es sehr gefährlich?«
»Ziemlich. Wenn sie mich erwischen, kriege ich lebenslänglich, Deportation — oder Todesstrafe.«
Sie saugte das letzte Restchen Rauch aus dem Stummel und warf ihn in die Ofenecke.
»Nein«, sagte sie und stand auf, »sowas ist nichts für Gustave. Sowas hat er nie getan.«
Sie schaute nach, ob das Wasser kochte; dann wickelte sie Nudeln aus und warf sie in den Topf.
»Gustave sagte, du hättest neun Jahre gehabt?«
»Zwölf«, verbesserte ich, »aber die letzten drei hat man mir geschenkt.«
»Zwölf Jahre«, meinte sie, und ich sah an der Bewegung ihrer Finger, daß sie rechnete.
»Zwölf Jahre«, wiederholte ich, »aber ich habe nur neun gesessen. — Das war neunzehnhundertvierundvierzig, als sie mich einsperrten.«
»Neunzehnhundertvierundvierzig?«
Sie stand vor dem Herd und schaute in das brodelnde Wasser.
»Hast du keine Angst?« fragte sie plötzlich.
»Angst? Wovor denn?«
»Wenn es schiefgeht? Neun Jahre sind eine lange Zeit — aber lebenslänglich? — Oder Tod? Das gibt’s doch nur, wenn man ...«
»Wenn man vorbestraft ist«, unterbrach ich sie, »dann gibt’s das sehr schnell.«
»Aha! — Und du willst wirklich wieder — «
»Was?«
»Ich weiß nicht. Gustave sagte, du seiest wegen Mordes — «
Ich nahm meine Jacke von dem Nagel, der in der Wand steckte.
»Die Anklage lautete damals auf Mord«, erklärte ich ihr, »aber ich hatte einen guten Verteidiger. Er brachte es fertig, daß ich nur wegen Totschlags im Affekt verurteilt wurde. — Und jetzt gehe ich noch ein wenig in die Stadt. Bis Gustave kommt, werde ich auch wieder da sein.«
Sie nickte nur, und ich verließ die Mansarde. Über eine ausgetretene, schmutzige Speichertreppe gelangte man auf die eigentliche Treppe im vierten Stockwerk.
Neben der Haustür war eine Holztafel mit vielen Zetteln, auf denen die Namen der Mieter standen. Gustaves Name war nicht dabei, und ich glaube, außer dem Hausmeister wußte niemand, wie Gustave Saupique in Wirklichkeit hieß und daß er dort oben hauste.
Ich schlenderte langsam die Rue de Vaugirard hinunter in Richtung zum Luxembourg. Unterwegs kaufte ich mir Zigaretten. Ich hatte nur noch wenige Francs in der Tasche. Das Geld, das man mir bei der Entlassung gegeben hatte.
Am Jardin du Luxembourg bog ich
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