Die Nacht von Granada
halten zu können, war schon um vieles mehr, als er sich in mutlosen Stunden jemals erhofft hatte.
Tante Pilar hatte die langen Winternächte auf ganz eigene Weise genutzt. Sei es, weil sie die Gedanken an den Padre vermeiden wollte, sei es, weil ihr, der eingefleischten Städterin, das stille, einsame Dasein hier oben ganz besonders zu schaffen machte, jedenfalls hatte sie eines Abends aus den Tiefen ihrer Satteltasche Papier, Tinte und Federn gezogen und damit begonnen, die Familienchronik aufzuschreiben, damit die Erinnerung an das, was früher war, nicht für immer verloren ging. Das Schreiben schien ihr alles andere als leichtzufallen, man hörte sie ächzen und stöhnen, und manchmal haderte sie laut mit sich, wenn etwas ihr nicht mehr einfallen wollte oder sie Schwierigkeiten hatte, Empfindungen in passende Worte zu fassen.
»Ich bin so langsam wie eine Schnecke!«, hörte Lucia sie bisweilen klagen, wenn sie nebenan mit ihrer Familie zu Abend aß und dabei die verliebten Blicke ertragen musste, die ihr Vater und Djamila sich zuwarfen. »Und auch kaum klüger als diese Tiere, wie mir manchmal scheint!«
Dann lachten alle, versicherten ihr lautstark das Gegenteil, und sie nahm mit frischem Mut die Feder zur Hand, um ihre Arbeit fortzusetzen.
Die Geburt des Kindes, die in naher Zukunft bevorstand, würde alles noch einmal radikal ändern, das wusste Lucia. Dann würde sie unweigerlich in die zweite Reihe zurücktreten müssen und alle Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit würden von nun an dem Kleinen gelten.
Wohin gehörte sie eigentlich?
In beiden Häusern versicherte man ihr, dass sie hier zu Hause war – und doch fühlte sie sich oftmals fremd. Dabei liebte Lucia die klare Luft, die schroffen, steil aufsteigenden Felswände, den einsamen Flug der Adler, die hoch über ihnen kreisten. Manchmal schien ihr Herz fast stillzustehen angesichts der Schönheit, die sie hier umgab, aber gleichzeitig vermisste sie Granada und das einstige Leben dort mit allen Fasern ihres Seins.
Dem Vater schien es nicht viel anders zu gehen. Das spürte sie, wenn Antonio mitten im Satz innehielt und wieder jenen leeren Blick bekam, als blicke er durch einen zersplitterten Spiegel zurück in die Vergangenheit. Auch Djamila fürchtete sich jeden Tag mehr vor einer Geburt jenseits aller Zivilisation, die sie ohne die wissenden Hände von Hebamme oder Hakim würde durchstehen müssen.
»Begrabt mich unter einem Olivenbaum, wenn ich dabei sterbe«, hatte sie erst gestern Abend gesagt, als das Kleine in ihr so lebhaft gestrampelt hatte, dass sie kaum noch sitzen konnte. »Wenn es ein Mädchen wird, dann soll sie Pilar heißen. Und nennt ihn Rashid, wenn es ein Junge wird. Das müsst ihr mir versprechen!«
Alle hatten ihr widersprochen und beschwichtigend auf die Schwangere eingeredet, bis auf Lucia, die plötzlich hinausgehen und nach Luft schnappen musste.
Da war er auf einmal gewesen, der Name, den bisher niemand ausgesprochen hatte!
Die Unruhe, die seitdem in ihr rumorte, hatte Lucia lange wach gehalten und den gleichmäßigen Atemzügen Nuris lauschen lassen, hatte ihr später wirre Träume geschickt und sie gleich beim ersten Licht aus dem Schlaf gerissen. Vielleicht würde es besser werden, wenn sie das Tagwerk beherzt begann.
Lucia sprang aus dem Bett, zog das Tuch enger um die Schultern. Allein die Vorstellung, sich nebenan mit eiskaltem Wasser reinigen zu müssen, bescherte ihr schon Gänsehaut am ganzen Körper. Wie komfortabel waren dagegen die Baderäume in Granada gewesen, vom regelmäßigen Besuch im geheizten Hamam ganz zu schweigen!
Was mochte aus dem verschwenderisch dekorierten Gebäude geworden sein, ebenso wie aus all den anderen Häusern im Albaycín, die nach dem niedergeschlagenen Aufstand die geballte Wut der angegriffenen Christen getroffen hatte?
Die Söhne Allahs waren schließlich besiegt worden, nachdem in Granada viel Blut auf beiden Seiten geflossen war, das wussten sie von einigen Flüchtlingen, die es nach ihnen bis hier herauf geschafft und sich im Nachbartal angesiedelt hatten. Es gab Gerüchte, einige der besiegten Maurenkrieger hätten sich ebenfalls bis in die Berge zurückgezogen, um neue Kräfte zu sammeln und erneut zuzuschlagen, doch bislang hatten sie keinen von ihnen zu Gesicht bekommen.
Nichts als dummes Gerede, dachte Lucia, als sie vor der Waschschüssel stand. Märchen, wie man sie kleinen Kindern erzählt, um sie zur Ruhe zu bringen!
Mit zusammengebissenen Zähnen vollzog sie
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