Die Nacht Von Lissabon
verlieren zu müssen, während sie noch Pläne machte, Hoffnung hatte, noch nicht aufgab, sich wehrte und flüsterte: ›Nicht jetzt! Ich muß Ella anrufen! Nicht jetzt! Wir müssen doch -‹
Wir mußten nichts, dachte ich. Ich hatte noch eine Stunde, und dann stürzte die Welt ab. Warum hatte ich das vorher nicht stärker gespürt? Ich hatte es gespürt, aber wozu hatte ich die Glaswand zwischen mir und meinem Gefühl nicht eingeschlagen? Wenn meine Rückkehr sinnlos war, dann war dies noch sinnloser gewesen! Ich mußte etwas von Helen mitnehmen in die graue Leere, in die ich zurückkehren würde, wenn ich Glück hatte, mehr als nur die Erinnerung an Vorsicht und Sichumkreisen und die letzte Vereinigung zwischen Schlaf und Schlaf; ich mußte Helen haben, klar, mit allen Sinnen, ihrem Gehirn, ihren Augen, ihren Gedanken, ganz, nicht nur wie ein Tier zwischen Nacht und Frühe.
Sie wehrte sich. Sie flüsterte, Georg könne zurückkommen, und ich weiß nicht, ob sie es wirklich glaubte. Ich selbst war zu oft in Gefahr gewesen, um sie nicht sofort vergessen zu können, wenn sie vorbei war - ich wollte jetzt nur eines, in diesem Zimmer mit dem Geruch nach Helens Parfüm und Kleidern und dem Bett und der Dämmerung: sie besitzen mit allem, was ich hatte, und allem, dessen ich fähig war, und das einzige, was ich schmerzhaft empfand und was die flache, dumpfe Qual des Verlustes durchstieß, war die Unfähigkeit, sie mehr und tiefer zu besitzen, als die Natur an Möglichkeiten zugab. Ich hätte mich ausbreiten mögen über sie wie eine Decke, ich hätte tausend Hände und Münder haben wollen, eine perfekte konkave Form von ihr sein mögen, um sie überall zu fühlen, ohne einen Zwischenraum irgendwo, Haut an Haut gepreßt, und trotzdem noch mit dem Ur-Schmerz, daß es nur Haut an Haut sein konnte und nicht Blut in Blut, nicht Vereinigung anstatt Beieinandersein.«
7
Ich hatte Schwarz zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Er sprach zwar zu mir, aber ich wußte, daß ich für ihn nur eine Wand war, von der manchmal ein Echo kam. Ich betrachtete mich auch so; anders hätte ich ihm nicht ohne Verlegenheit zuhören können, und ich war überzeugt, daß auch er nicht ohne das hätte erzählen können, was er noch einmal aufstehen lassen wollte, bevor er es im lautlos rieselnden Sand der Erinnerung begraben mußte. Ich war ein fremder Mensch, der für eine Nacht seinen Weg kreuzte und vor dem er keine Hemmungen zu haben brauchte. Eingehüllt in den anonymen Mantel eines fernen, toten Namens - Schwarz - begegnet er mir, und wenn er den Mantel abwarf, warf er damit auch seine Persönlichkeit ab und verschwand wieder in der anonymen Menge, die dem schwarzen Tor an der letzten Grenze zuwandert, wo man keine Papiere braucht und von wo man niemals ausgewiesen und zurückgeschickt wird.
Der Kellner teilte uns mit, daß außer englischen Diplomaten auch ein deutscher angekommen sei. Er zeigte ihn uns. Der Abgesandte Hitlers saß fünf Tische von uns entfernt mit drei anderen Leuten, darunter zwei Frauen, die kräftig und gesund aussahen und Kleider in zwei Farben von Blau und Seide trugen, die nicht zueinander paßten. Der Mann, der uns bezeichnet wurde, drehte uns den Rücken, und ich fand das passend und beruhigend.
»Ich dachte, es würde die Herren interessieren«, sagte der Kellner, »da Sie doch auch deutsch sprechen.«
Schwarz und ich wechselten unwillkürlich den Emigrantenblick - ein kurzes Heben der Lider und ein ausdruckloses Abwenden nachher. Nichts schien uns weniger zu interessieren. Der Emigrantenblick ist anders als der deutsche Blick unter Hitler - das vorsichtige Umsehen nach allen Seiten, um dann flüsternd etwas mitzuteilen -, aber beide gehören zur Kultur unseres Jahrhunderts, ebenso wie die erzwungene Völkerwanderung, von den unzähligen einzelnen Herren Schwarz in Deutschland bis zur Verschiebung ganzer Provinzen in Rußland. In hundert Jahren, wenn die Elendsschreie verhallt sind, wird ein findiger Historiker das alles als kulturfördernde, kulturdüngende und kulturverbreitende Tatsache feiern.
Schwarz sah den Kellner teilnahmslos an. »Wir wissen, wer er ist«, sagte er. »Bringen Sie uns noch etwas Wein. Helen ging«, fuhr er dann ebenso ruhig fort, »den Wagen ihrer Freundin zu holen. Ich blieb allein, um in der Wohnung auf sie zu warten. Es war Abend, und die Fenster standen offen. Ich hatte alle Lichter abgedreht, damit niemand sehen könne, daß ich in der Wohnung sei. Sollte jemand
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