Die Nacht Von Lissabon
wenig, wie du denkst. Ich habe es schon seit langer Zeit beiseite gelegt. Es ist in der Tasche dort.‹
Sie zeigte auf eine kleine Ledertasche. ›Es sind meistens Hundertmarkscheine. Ein Päckchen Zwanziger ist auch dabei, für Deutschland, damit du keinen großen Schein wechseln mußt. Zähle es nicht. Nimm es. Es ist ohnehin dein Geld.‹
›Hat die Partei mein Konto nicht beschlagnahmt.‹
›Ja, aber nicht früh genug. Ich konnte dieses hier vorher abheben. Jemand bei der Bank hat mir geholfen. Ich wollte es für dich haben und es dir einmal schicken; aber ich wußte nie, wo du warst.‹
›Ich habe dir nicht geschrieben, weil ich dachte, du würdest beobachtet. Ich wollte nicht, daß man dich auch in ein Lager sperrt.‹
›Nicht allein deshalb‹, sagte Helen ruhig.
›Nein, vielleicht nicht allein deshalb.‹
Wir fuhren durch ein Dorf mit weißen westfälischen Häusern und Strohdächern und schwarzem Gebälk. Junge Leute in Uniform stolzierten umher. Aus einer Kneipe dröhnte das Horst-Wessel-Lied.
›Es gibt Krieg‹, sagte Helen plötzlich. ›Bist du deshalb zurückgekommen?‹
›Woher weißt du, daß es Krieg gibt?‹
›Von Georg. Bist du deshalb gekommen?‹
Ich wußte nicht, weshalb sie das noch wissen wollte. War ich nicht schon wieder auf der Flucht?
›Ja‹, erwiderte ich. ›Ich bin auch deshalb gekommen, Helen.‹
›Du wolltest mich holen?‹
Ich starrte sie an. ›Mein Gott, Helen‹, sagte ich schließlich. ›Sprich nicht so darüber. Du hast keine Ahnung, wie es drüben ist. Es ist kein Abenteuer, und es wird undenkbar, wenn es Krieg gibt. Man wird alle Deutschen einsperren.‹
Wir mußten an einer Bahnüberführung halten. Vor dem Bahnwärterhäuschen blühte ein kleiner Garten mit Dahlien und Rosen. Der Wind klirrte an dem Gestänge der Schranken, als wären sie Harfen. Neben uns kamen andere Wagen heran - zuerst ein kleiner Opel mit vier dicken, ernsten Männern; ihm folgte ein offener grüner Zweisitzer mit einer alten Frau; dann schob sich, lautlos, eine schwarze Mercedes-Limousine wie ein Leichenwagen dicht neben uns. Ein Chauffeur in schwarzer SS-Uniform war am Steuer, und im Fond saßen zwei SS-Offiziere mit sehr bleichen Gesichtern. Der Wagen stand so dicht neben uns, daß ich hätte hinüberreichen können. Es dauerte ziemlich lange, bis der Zug kam. Helen saß schweigend neben mir. Der Mercedes mit dem vielen Chrom schob sich noch etwas weiter vor, so daß der Kühler fast die Schranken berührte. Er wirkte tatsächlich wie ein Trauerwagen, in dem zwei Tote transportiert wurden. Wir hatten soeben vom Krieg gesprochen, und hier, neben uns, schien sein Symbol sich herangeschoben zu haben: die schwarzen Uniformen, die Leichengesichter, die silbernen Totenköpfe, der schwarze Wagen und die Stille, die nicht mehr nach Rosen zu riechen schien, sondern schon nach bitterem Immergrün und Verwesung.
Der Zug lärmte heran wie das Leben selbst. Es war ein Schnellzug mit Schlafabteilen und einem hellerleuchteten Speisewagen mit weißgedeckten Tischen. Als die Schranken hochgingen, schoß der Mercedes den anderen Wagen voran in die Dunkelheit, wie ein dunkles Torpedo, das gespenstisch die Landschaft entfärbte, als wären die Bäume bereits schwarze Skelette.
›Ich gehe mit dir‹, flüsterte Helen.
›Was? Was sagst du da?‹
›Warum nicht?‹
Sie hielt den Wagen an. Die Stille überfiel uns wie ein lautloser Schlag, und dann hörten wir die Geräusche der Nacht. ›Warum nicht?‹ fragte Helen plötzlich sehr erregt. ›Willst du mich wieder zurücklassen?‹
Ihr Gesicht war so blaß im blauen Schein des Instrumentenbrettes wie das der Offiziere - als wäre auch sie bereits vom Tode, der in der Juninacht umherschlich, gezeichnet worden. Ich begriff in diesem Augenblick, daß das meine tiefste Angst gewesen war: daß der Krieg zwischen uns kommen würde, und daß wir uns nie wiederfinden würden, nachdem er ausgetobt hätte, weil man nicht, selbst mit größter Vermessenheit, auf soviel persönliches Glück hoffen konnte, nach einem Erdbeben, das alles zerstören würde.
›Wenn du nicht gekommen bist, um mich zu holen, dann ist es ein Verbrechen, daß du überhaupt gekommen bist! Verstehst du das nicht?‹ sagte Helen, geschüttelt vor Zorn.
›Ja‹, erwiderte ich.
›Weshalb weichst du dann aus?‹
›Ich weiche nicht aus. Aber du weißt nicht, was es bedeutet.‹
›Weißt du es so genau? Weshalb bist du
Weitere Kostenlose Bücher