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Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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mir spazieren. Es ist wunderbar draußen. Frische Luft ist besser als alle Tabletten.‹
      ›Ich habe sie bereits genommen und muß sie ausschlafen. Ich will nicht herumlaufen.‹
      Sie redeten eine Weile weiter. Georg wollte Helen später abholen, aber sie weigerte sich. Er fragte, ob sie genug zu essen im Hause habe. Ja, sie habe zu essen. Wo das Mädchen sei? Das Mädchen habe seinen freien Nachmittag, es komme zurück, das Abendessen zu machen.
    ›Es ist also alles in Ordnung?‹ fragte Georg.
    ›Was soll denn nicht in Ordnung sein?‹
      ›Nun, ich meine nur! Man macht sich oft unnütze Gedanken. Schließlich -‹
    ›Was schließlich?‹ fragte Helen scharf.
    ›Nun, damals -‹
    ›Was damals?‹
      ›Du hast recht‹, sagte Georg. ›Wozu darüber reden? Wenn alles in Ordnung ist, ist alles in Ordnung. Ich bin schließlich dein Bruder, da fragt man mal -‹
    ›Ja.‹
    ›Was?‹
    ›Du bist mein Bruder.‹
      ›Ich wollte, du verständest das besser. Ich meine es gut mit dir!‹
    ›Ja, ja‹, sagte Helen ungeduldig. ›Du hast mir das schon oft erklärt.‹
    ›Was hast du nur heute? Du bist doch sonst anders.‹
    ›Ja?‹
      ›Vernünftiger, meine ich. Wenn der alte Kram jetzt wieder losgeht -‹
      ›Nichts geht los. Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles! Und ich hasse es, kontrolliert zu werden.‹
      ›Niemand kontrolliert dich! Ich bin nur besorgt um dich.‹
    ›Sorge dich nicht. Mir fehlt nichts.‹
    ›Das sagst du immer. Damals -‹
      ›Wir wollen nicht von damals sprechen‹, sagte Helen schroff.
      ›Natürlich nicht! Ich schon bestimmt nicht. Bist du beim Arzt gewesen?‹
    ›Ja‹, erwiderte Helen nach einem Augenblick.
    ›Was sagt er?‹
    ›Nichts.‹
    ›Er muß doch etwas sagen.‹
    ›Er sagt, ich solle mich ausruhen‹, sagte Helen ärgerlich.
    ›Ich solle schlafen, wenn ich müde sei und Kopfschmerzen habe, und mich nicht streiten und auch nicht um Erlaubnis fragen, ob es mit meinen Pflichten als Volksgenossin und Bürgerin des glorreichen Tausendjährigen Reiches vereinbar wäre.‹
    ›Hat er das gesagt?‹
    ›Nein, er hat das nicht gesagt‹, erwiderte Helen laut und
    schnell. ›Ich habe das hinzugefügt! Er hat mir nur gesagt, mich nicht unnötig aufzuregen! Er hat also kein Verbrechen begangen und braucht in kein Konzentrationslager gebracht zu werden. Er ist ein aufrechter Anhänger der Regierung. Ist das genug?‹
    Georg murmelte etwas. Ich nahm an, daß er sich zum
    Gehen anschickte, und da ich gelernt hatte, daß das ein riskanter Augenblick ist, weil Unvorhergesehenes passieren kann, zog ich die Schranktür bis auf einen kleinen Spalt hinter mir zu. Gleich darauf hörte ich ihn in das Schlafzimmer kommen. Ich sah seinen Schatten durch den schmalen Spalt Licht gleiten und hörte, wie er ins Badezimmer ging. Mir schien, als käme Helen auch herein, aber ich sah sie nicht. Ich schloß die Schranktür ganz und stand nun im Dunkeln, das Papiermesser fest an mich gedrückt, zwischen den Kleidern Helens.
      Ich wußte, daß Georg mich nicht entdeckt hatte, und ich wußte, daß er wahrscheinlich aus dem Badezimmer ins Wohnzimmer zurückgehen und sich verabschieden würde; trotzdem spürte ich die Enge im Halse, während zur selben Zeit der Schweiß von den Achselhöhlen am Körper heruntersickerte. Es ist anders mit der Angst vor dem Unbekannten als mit der vor etwas, was man kennt. Wenn es unbekannt ist, mag es gefährlich erscheinen, aber es ist unbestimmt, und man kann die Angst mit Disziplin oder sogar mit Tricks kontrollieren. Wenn man aber weiß, was einem bevorsteht, ist nicht viel mit Disziplin oder psychologischen Salto mortale anzufangen. Die erste Angst hatte ich gekannt, bevor ich ins Konzentrationslager gebracht worden war; die zweite spürte ich jetzt, nachdem ich wußte, was mich im Lager erwartete, wenn ich wieder eingeliefert würde.
    Es war sonderbar, daß ich mir all die Zeit, seit ich die Grenze überschritten hatte, nie Rechenschaft darüber gegeben hatte und auch nicht hatte geben wollen. Es hätte mich aufgehalten, und etwas in mir wollte nicht aufgehalten werden. Dazu kam, daß unser Gedächtnis fälscht, um uns überleben zu lassen. Es versucht, das Unerträgliche zu mildern durch die Patina des Vergessens. Sie kennen das?«
      »Ja, ich kenne es«, erwiderte ich. »Aber es ist kein Vergessen; es ist eine Art Halbschlaf. Ein Stoß genügt, und alles ist wieder hellwach.«
    Schwarz nickte. »Ich stand in der dunklen,

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