Die Nacht Von Lissabon
Dann hockte ich mich auf einen Granitblock und wartete. Ich sah ihren Kopf mit dem hochgebundenen Haar sehr klein in der Weite des Wassers und dachte daran, daß sie alles war, was ich hatte, und hätte gern gerufen, sie möge zurückkehren. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, daß sie etwas mir Unbekanntes mit sich auszukämpfen hatte und daß sie es in diesem Moment tat; - das Wasser war Schicksal und Frage und Antwort für sie, und sie mußte es allein bestehen, wie jeder es muß - das Wenige, was ein anderer dazu tun kann, ist, da zu sein, um vielleicht etwas Wärme geben zu können.
Helen schwamm in einem Bogen hinaus und wendete dann und kam in direkter Linie zurück, gerade auf mich zu. Es war beglückend, sie näher kommen zu sehen, den dunklen Kopf vor dem violetten See, bis sie sich schmal und hell aus dem Wasser hob und rasch auf mich zukam.
›Es ist kalt. Und unheimlich. Das Stubenmädchen erzählt, auf dem Grunde unter den Inseln lebe ein riesiger Krake.‹
›Die größten Fische in diesem See sind alte Hechte‹, sagte ich und hüllte sie in das Frottiertuch. ›Kraken gibt es hier nicht. Die gibt es nur in Deutschland, seit 1933. Aber jedes Wasser ist nachts unheimlich.‹
›Wenn wir denken können, daß es Kraken gibt, muß es auch welche geben‹, erklärte Helen. ›Wir können nichts denken, was es nicht gibt.‹
›Das wäre ein einfacher Gottesbeweis.‹
›Glaubst du es nicht?‹
›Ich glaube alles in dieser Nacht.‹
Sie lehnte sich an mich. Ich ließ das nasse Tuch fallen und gab ihr ihren Bademantel. ›Glaubst du, daß wir mehrere Male leben?‹ fragte sie.
›Ja‹, erwiderte ich ohne Zögern.
Sie seufzte. ›Gott sei Dank! Ich könnte jetzt nicht auch noch darüber streiten. Ich bin müde und kalt. Man vergißt, daß dies ein Gebirgssee ist.‹
Ich hatte außer dem Wein noch eine Flasche Grappa vom Albergo délia Posta mitgenommen, einen klaren Schnaps aus Traubentrebern, ähnlich dem Marc in Frankreich. Er ist würzig und stark und gut für solche Augenblicke. Ich holte ihn und gab ihr ein großes Glas voll. Sie trank es langsam aus. ›Ich gehe nicht gern weg von hier‹, sagte sie.
›Du wirst es morgen vergessen haben‹, erwiderte ich. ›Wir fahren nach Paris. Du bist noch nie dagewesen. Es ist die schönste Stadt der Welt.‹
›Die schönste Stadt der Welt ist die, in der man glücklich ist. Ist das ein Gemeinplatz?‹
Ich lachte. ›Zum Teufel mit der Vorsicht im Stil!‹ sagte ich. ›Wir können gar nicht genug Gemeinplätze haben! Besonders nicht solche. Willst du noch einen Grappa?‹
Sie nickte, und ich holte auch mir ein Glas. Wir saßen an dem Steintisch auf der Wiese, bis Helen schläfrig wurde. Ich brachte sie zu Bett. Sie schlief neben mir ein. Ich sah durch die offene Tür auf die Wiese, die langsam blau und dann silbrig wurde. Helen erwachte nach einer Stunde und ging in die Küche, um Wasser zu holen. Sie kam mit einem Brief zurück, der angekommen war, während wir in Ronco waren. Er mußte in ihrem Zimmer gelegen haben. ›Von Martens‹, sagte sie, las ihn und legte ihn weg. ›Weiß er, daß du hier bist?‹ fragte ich. Sie nickte. ›Er hat meiner Familie erklärt, daß ich auf seinen Rat wieder in die Schweiz zur Untersuchung gefahren sei und daß ich ein paar Wochen bleiben müsse.‹
›Warst du bei ihm in Behandlung?‹
›Ab und zu.‹
›Für was?‹
›Nichts Besonderes‹, sagte sie und legte den Brief in ihre Handtasche. Sie gab ihn mir nicht zu lesen.
›Woher hast du eigentlich die Narbe?‹ fragte ich.
Eine dünne, weiße Linie lief über ihren Magen. Ich hatte sie schon vorher bemerkt, aber sie war jetzt deutlicher auf der braunen Haut.
›Eine kleine Operation. Nichts Wichtiges.‹
›Was für eine Operation?‹
›Eine, über die man nicht spricht. Frauen haben manchmal so etwas.‹ Sie löschte das Licht. ›Es ist gut, daß du gekommen bist, mich zu holen‹, flüsterte sie. ›Ich konnte es nicht mehr aushalten. Liebe mich! Liebe mich und frage nicht. Nichts. Nie.‹«
10
»Glück«, sagte Schwarz. »Wie das zusammenläuft in der Erinnerung! Wie ein billiger Stoff in der Wäsche. Nur das Unglück kann zählen. Wir kamen nach Paris und fanden Zimmer in einem kleinen Hotel am linken Ufer der Seine am Quai des Grands-Augustins. Das Hotel hatte keinen Aufzug, die Treppen waren vom Alter verzogen und gebogen, und die Zimmer waren klein; aber sie hatten Aussicht auf die
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