Die Nacht Von Lissabon
gehe nicht zum Konsulat, und ich gehe nicht zurück.‹
Wir hatten vorher nie darüber gesprochen. Dies war die Entscheidung. Ich antwortete nicht. Ich sah Helen nur an; ich sah hinter ihr den Himmel und die Bäume des Gartens und einen schmalen, glitzernden Streifen See. Ihr Gesicht war dunkel vor dem vielen Licht. ›Du hast keine Verantwortung dafür‹, sagte sie ungeduldig. ›Du hast mich nicht überredet, und es hat nichts mit dir zu tun. Auch wenn du nicht da wärest, würde ich nie mehr zurückgehen. Ist das genug?‹
›Ja‹, sagte ich überrascht und etwas beschämt. ›Aber es ist nicht das, woran ich gedacht habe.‹
›Das weiß ich, Josef. Dann laß uns nicht mehr davon sprechen. Nie mehr.‹
›Krause wird wiederkommen‹, sagte ich. ›Oder jemand anderer.‹ Sie nickte. ›Sie könnten herausfinden, wer du bist und dir Schwierigkeiten machen. Laß uns nach dem Süden gehen.‹
›Wir können nicht nach Italien. Die Gestapo ist zu befreundet mit der Polizei Mussolinis.‹
›Gibt es keinen anderen Süden?‹
›Doch. Das Tessin der Schweiz. Locarno und Lugano.‹
Wir fuhren am Nachmittag ab. Fünf Stunden später saßen wir auf der Piazza von Ascona vor der Locanda Svizzera in einer Welt, die nicht fünf, sondern fünfzig Stunden von Zürich entfernt war. Die Landschaft war italienisch, der Ort war voll von Touristen, und niemand schien an etwas anderes zu denken, als zu schwimmen, in der Sonne zu liegen und rasch noch so viel vom Leben zu erraffen, als möglich war. Es war eine sonderbare Stimmung in Europa in diesen Monaten. Erinnern Sie sich?« fragte Schwarz.
»Ja«, erwiderte ich. »Man hoffte auf Wunder. Ein zweites München. Und ein drittes. Und so fort.«
»Es war das Zwielicht von Hoffnung und Verzweiflung. Die Zeit hielt den Atem an. Nichts anderes schien einen Schatten zu werfen unter dem transparenten und unwirklichen Schatten der großen Drohung. Es war, als stände ein riesiger, mittelalterlicher Komet zusammen mit der Sonne am strahlenden Himmel. Alles war lose. Und alles war möglich.«
»Wann gingen Sie nach Frankreich?« fragte ich.
Schwarz nickte. »Sie haben recht. Alles andere war nur vorübergehend. Frankreich ist die ruhelose Heimat der Heimatlosen. Alle Wege fuhren immer wieder dahin. Helen erhielt nach einer Woche einen Brief von Herrn Krause. Sie möge sofort zum Konsulat Zürich oder Lugano kommen. Es sei wichtig.
Wir mußten fort. Die Schweiz war zu klein und zu wohlorganisiert. Man würde uns immer wieder finden. Und ich konnte mit meinem falschen Paß jeden Tag kontrolliert und ausgewiesen werden.
Wir fuhren nach Lugano, aber nicht zum deutschen, sondern zum französischen Konsulat für ein Visum. Ich erwartete Schwierigkeiten, aber es ging glatt. Wir bekamen Touristenvisa für ein Jahr. Ich hatte höchstens auf drei Monate gerechnet.
›Wann wollen wir fahren?‹ fragte ich Helen.
›Morgen.‹
Wir aßen am letzten Abend im Garten des Albergos délia Posta in Ronco, einem Dorf, das wie ein Schwalbennest hoch über dem See an den Bergen hängt. Zwischen den Bäumen schimmerten Windlichter, Katzen strichen über die Mauern, und von den Terrassen unterhalb des Gartens kam der Geruch von Rosen und wildem Jasmin. Der See mit den Inseln, auf denen in römischen Zeiten ein Venustempel gestanden haben soll, lag unbewegt, die Berge ringsum waren kobaltblau vor dem hellen Himmel, und wir aßen Spaghetti und Piccata und tranken dazu den Nostranowein der Gegend. Es war ein Abend von einer fast unerträglichen Süße und Schwermut.
›Schade, daß wir wegmüssen‹, sagte Helen. ›Ich würde gern einen Sommer hierbleiben.‹
›Du wirst das noch oft sagen.‹
›Was ist besser, als das zu sagen? Ich habe das Gegenteil oft genug gesagt.‹
›Was?‹
›Schade, daß ich hierbleiben muß.‹
Ich nahm ihre Hand. Ihre Haut war sehr braun, die Sonne brauchte dafür nicht mehr als zwei Tage, und ihre Augen schienen dadurch heller. ›Ich liebe dich sehr‹, sagte ich. ›Ich liebe dich und diesen Augenblick und den Sommer, der nicht bleiben wird, und diese Landschaft und den Abschied, und zum erstenmal in meinem Leben mich selbst, weil ich wie ein Spiegel bin und dich spiegele und dich so zweimal habe. Gesegnet sei dieser Abend und diese Stunde!‹
›Gesegnet sei alles! Laß uns darauf trinken. Und gesegnet seist du, weil du endlich einmal wagst, etwas zu sagen, worüber du sonst errötet
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