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Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Seine, die Bücherläden am Quai, die Conciergerie und auf Notre-Dame. Wir hatten Pässe. Wir waren Menschen bis September 1939.
      Wir waren Menschen bis September, und es war gleichgültig, ob unsere Pässe echt waren oder nicht. Es war nicht mehr gleichgültig, als der Kalte Krieg begann.
      ›Wovon hast du gelebt, während du hier warst?‹ fragte Helen mich ein paar Tage nach unserer Ankunft im Juli. ›Durftest du arbeiten?‹
      ›Natürlich nicht. Ich durfte ja nicht existieren. Wie sollte ich da eine Arbeitserlaubnis bekommen?‹
    ›Wovon hast du dann gelebt?‹
    ›Ich weiß es nicht mehr‹, erwiderte ich wahrheitsgetreu. ›Ich habe in vielen Berufen gearbeitet. Immer für kurze Zeit. In Frankreich wird nicht alles genau genommen; es gibt oft Gelegenheit, illegal etwas zu tun, besonders, wenn man billig arbeitet. Ich habe Kisten aufgeladen und abgeladen in Les Halles; ich bin Kellner gewesen; ich habe mit Strümpfen, Krawatten und Hemden gehandelt; ich habe Unterricht in Deutsch gegeben; ich habe von dem Refuge-Comité manchmal etwas bekommen; ich habe verkauft, was ich noch besaß; ich bin Chauffeur gewesen; ich habe für Zeitungen in der Schweiz kleine Artikel geschrieben.‹
    ›Konntest du nicht wieder Redakteur werden?‹
      ›Nein. Dazu braucht man eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Meine letzte Beschäftigung war Adressenschreiben. Dann kam Schwarz und mit ihm mein apokryphes Leben.‹
    ›Warum apokryph?‹
      ›Ein untergeschobenes, verborgenes, unter dem Schutz eines Toten und eines fremden Namens.‹
    ›Ich wollte, du würdest es anders nennen‹, sagte Helen.
      ›Wir können es nennen, wie wir wollen. Ein doppeltes Leben, ein geborgtes; oder ein zweites. Eher ein zweites. Ich fühle es so. Wir sind wie Schiffbrüchige, die ihre Erinnerung verloren haben. Sie haben nichts zu bedauern - denn Erinnerung ist immer auch Bedauern, daß man das Gute, was man gehabt hat, an die Zeit verlieren mußte und das Schlechte nicht besser gemacht hat.‹
      Helen lachte. ›Was sind wir jetzt? Schwindler, Tote oder Geister?‹
      ›Legal sind wir Touristen. Wir dürfen hier sein; aber nicht arbeiten.‹
      ›Gut‹, sagte sie. ›Dann laß uns nicht arbeiten. Laß uns auf die Ile-St.-Louis gehen und auf einer Bank in der Sonne sitzen und nachher zum Café de la France wandern und auf der Straße essen. Ist das ein gutes Programm?‹
      ›Es ist ein sehr gutes Programm‹, sagte ich, und dabei blieb es. Ich suchte keine Gelegenheitsarbeit mehr. Wir blieben zusammen vom frühen Morgen bis zum frühen Morgen und waren Wochen hindurch nicht getrennt.
    Die Zeit rauschte draußen vorbei mit Extrablättern, Alarmnachrichten und Extrasitzungen, aber sie war nicht in uns. Wir lebten nicht in ihr. Sie war nicht da. Was war dann da? Ewigkeit! Wenn das Gefühl alles ausfüllt, ist kein Platz mehr da für Zeit. Man hat andere Ufer erreicht, jenseits von ihr. Oder glauben Sie nicht?«
      Das Gesicht von Schwarz hatte wieder den intensiven, verzweifelten Ausdruck, den ich vorher schon gesehen hatte. »Oder glauben Sie nicht?« fragte er.
      Ich war müde und gegen meinen Willen ungeduldig geworden. Von Glück zu hören ist uninteressant, und die Kaprice von Schwarz mit der Ewigkeit wurde es ebenso.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich gedankenlos.
      »Vielleicht ist es Glück oder Ewigkeit, wenn man darin stirbt; dann kann die Zeit keinen Kalendermaßstab mehr anlegen und muß es gelten lassen. Wenn man aber weiterlebt, kann man nichts dagegen tun, daß es trotz allem wieder ein Stück Vergänglichkeit wird.«
    »Es soll nicht sterben!« sagte Schwarz plötzlich heftig.
    »Es soll stehenbleiben wie eine Skulptur aus Marmor! Nicht wie eine Sandburg, von der jeden Tag etwas wegweht! Was geschieht denn mit den Toten, die wir lieben? Was geschieht damit, Herr? Werden sie nicht immer noch einmal getötet? Wo anders sind sie denn, als noch in unserer Erinnerung? Und werden wir da nicht alle zu Mördern, ohne es zu wollen? Soll ich das Gesicht dem Hobel der Zeit überlassen, das Gesicht, das ich allein kenne? Ich weiß, daß es in mir verwittern muß und gefälscht wird, wenn ich es nicht herausbringe aus mir, es aufstelle, außer mir, so daß die Lügen meines weiterlebenden Gehirns es nicht umranken können wie Efeu und es zerstören, bis schließlich nur noch Efeu da ist und es zum Humus für den Schmarotzer Zeit wird! Ich weiß das! Deshalb muß ich es ja sogar vor mir selbst

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