Die Nacht Von Lissabon
bald gewann der Betrug eine seltsame Macht. Er vernichtete zunächst das, was ich am meisten fürchtete: den Begriff der Zeit. Die Einteilung in Wochen und Monate zerfiel, und die Furcht vor der Kürze der Zeit, die wir noch hatten, wurde dadurch durchsichtig wie Glas. Die Angst verdeckte nicht mehr; sie schützte eher unsere Tage. Alles, was stören konnte, prallte an ihr ab; es kam nicht mehr hinein. Ich hatte meine Verzweiflungsanfalle, wenn Helen schlief. Dann starrte ich auf ihr Gesicht, das leise atmete, und auf meine gesunden Hände und begriff die entsetzliche Verlassenheit, die unsere Haut uns auferlegt, die Trennung, die nie zu überbrücken ist. Nichts von meinem gesunden Blut konnte das geliebte kranke Blut retten. Das ist nicht zu verstehen, und der Tod ist nicht zu verstehen.
Der Augenblick wurde alles. Morgen lag in endloser Ferne. Wenn Helen erwachte, begann der Tag, und wenn sie schlief, und ich fühlte sie neben mir, begann das Oszillieren von Hoffnung und Trostlosigkeit, von Plänen, die auf Traummauern gebaut waren, von pragmatischen Wundern und einer Philosophie des Noch-Habens und Augenschließens, die im frühen Licht erlosch und im Nebel ertrank.
Es wurde kalt. Ich trug den Degas bei mir, der das
Fahrgeld nach Amerika darstellte, und hätte ihn gern jetzt verkauft; aber in den kleinen Städten und Dörfern gab es niemand, der etwas dafür bezahlen wollte. An manchen Plätzen arbeiteten wir. Ich lernte Feldarbeit. Ich hackte und grub; ich wollte etwas tun. Wir waren nicht die einzigen. Ich sah Professoren Holz sägen und Opernsänger Rüben hacken. Die Bauern waren, wie Bauern sind; sie nützten die Gelegenheit aus, billige Arbeiter zu finden. Manche zahlten etwas; andere gaben Essen und erlaubten einem, nachts irgendwo zu schlafen. Und manche jagten die Bittenden fort. So wanderten und fuhren wir auf Marseille zu. Waren Sie in Marseille?«
»Wer war nicht da?« sagte ich. »Es war der Jagdplatz der Gendarmen und der Gestapo. Sie fingen die Emigranten vor den Konsulaten ab wie Hasen.«
»Sie fingen auch uns beinahe«, erwiderte Schwarz.
»Dabei tat der Präfekt im Service étrangers von Marseille alles, um Emigranten zu retten. Ich war immer noch besessen davon, ein amerikanisches Visum zu bekommen. Es schien mir, als könne es selbst den Krebs zum Stillstand bringen. Sie wissen, daß kein Visum erteilt wurde, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, daß man sehr gefährdet sei, oder wenn man nicht in Amerika auf eine Liste bekannter Künstler, Wissenschaftler oder Intellektueller gesetzt wurde. Als ob wir nicht alle gefährdet gewesen wären - und als ob Mensch nicht Mensch wäre! Ist der Unterschied zwischen wertvollen und gewöhnlichen Menschen nicht eine ferne Parallele zu den Übermenschen und den Untermenschen?«
»Sie können nicht alle nehmen«, erwiderte ich.
»Nein?« fragte Schwarz. Ich antwortete nicht. Was war da zu antworten? Ja und Nein waren dasselbe.
»Warum dann nicht die Verlassensten?« fragte Schwarz.
»Die ohne Namen und ohne Verdienst?«
Ich antwortete wieder nicht. Schwarz hatte zwei amerikanische Visa - was wollte er? Wußte er denn nicht, daß Amerika jedem ein Visum gab, für den jemand drüben bürgte, daß er dem Staat nicht zur Last fallen würde?
Er sagte es im nächsten Augenblick. »Ich kenne niemand drüben; aber jemand gab mir eine Adresse in New York. Ich schrieb hin; ich schrieb auch noch an andere. Ich schilderte unsere Lage. Dann sagte mir ein Bekannter, daß ich es falsch gemacht habe; Kranke würden nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen. Unheilbar Kranke schon gar nicht. Ich müsse Helen als gesund ausgeben. Helen hatte einen Teil der Unterhaltung mit angehört. Es war nicht zu vermeiden; niemand sprach über etwas anderes in diesem verstörten Bienenschwarm Marseille.
Wir saßen an diesem Abend in einem Restaurant in der Nähe der Cannebière. Der Wind fegte durch die Straßen. Ich war nicht entmutigt. Ich hoffte, einen menschlichen Arzt zu finden, der Helen ein Gesundheitsattest geben würde. Wir spielten immer noch dasselbe Spiel: daß wir einander glaubten, daß ich nichts wüßte. Ich hatte an den Präfekten ihres Lagers geschrieben, uns zu bestätigen, daß wir gefährdet seien. Wir hatten ein kleines Zimmer gefunden; ich hatte eine Aufenthaltserlaubnis für eine Woche bekommen und arbeitete nachts schwarz in einem Restaurant als Tellerwäscher; wir hatten etwas Geld, und ein Apotheker hatte mir auf
Weitere Kostenlose Bücher