Die Nacht Von Lissabon
einem roten Kimono. ›Wo sollen wir denn sonst hin? Seien Sie barmherzig!‹
›Ich bin barmherzig gewesen! Man wird nur ausgenutzt, das ist alles. Was hat sie denn für Sachen gehabt? Nichts!‹
Die Concierge suchte. Das nackte Licht der einzigen Birne im Zimmer war gelb und fahl. Unter dem Bett stand ein Koffer aus billigstem Vulkanfiber. Die Concierge kniete an der Schmalseite des eisernen Bettes nieder, an der kein Blut heruntergelaufen war, und zerrte den Koffer hervor. Ihr dicker Hintern, der in einem gestreiften Hauskleid steckte, wirkte wie der eines riesigen obszönen Insektes, das sein Opfer auffressen will. Sie öffnete den Koffer. ›Nichts! Ein paar Lumpen! Durchgelaufene Schuhe.‹
›Da!‹ sagte die alte Frau. Sie hieß Lucie Löwe und verkaufte schwarz Ausschuß-Strümpfe und kittete zerbrochenes Porzellan.
Die Concierge öffnete ein Schächtelchen. Auf rosa Watte gebettet, enthielt es eine kleine Kette und einen Ring mit einem kleinen Stein.
›Gold?‹ fragte die dicke Frau. ›Sicher nur vergoldet!‹
›Gold‹, sagte Lachmann.
›Wenn es Gold wäre, hätte sie ihn verkauft‹, erklärte die Concierge, ›bevor sie das da getan hätte.‹
›Man tut das da nicht immer nur aus Hunger‹, erwiderte Lachmann ruhig. ›Das ist Gold. Und der kleine Stein ist ein Rubin. Wert mindestens sieben- bis achthundert Francs.‹
›Unsinn!‹
›Wenn Sie wollen, kann ich ihn für Sie verkaufen.‹
›Und mich dabei reinlegen, was? Nein, mein Lieber, nicht mich!‹
Sie mußte die Polizei rufen. Das war nicht zu vermeiden. Die Emigranten, die im Hause wohnten, verschwanden in dieser Zeit. Die meisten gingen auf ihre Tour - zu den Konsulaten oder um etwas zu verkaufen oder Arbeit zu finden -, die andern in die nächste Kirche, um dort auf Nachrichten von einem von ihnen zu warten, der an der Straßenecke als Beobachtungsposten zurückgelassen wurde. Kirchen waren sicher.
Es wurde gerade eine Messe zelebriert. In den Seitengängen hockten Frauen wie dunkle, kleine Hügel in schwarzen Kleidern vor den Beichtstühlen. Die Kerzen brannten ohne Regung, eine Orgel brauste, und das Licht schimmerte auf dem goldenen Kelch, den der Priester hob und in dem das Blut Christi war, der die Welt damit erlöst hatte. Zu was hatte es geführt? Zu blutigen Kreuzzügen, religiösem Fanatismus, den Foltern der Inquisition, Hexenverbrennungen und Ketzermorden - alles im Namen der Nächstenliebe.
›Wollen wir nicht zum Bahnhof gehen?‹ fragte ich Helen. ›Es ist wärmer im Wartesaal als hier in der Kirche.‹
›Warte noch einen Augenblick.‹ Sie ging zu einer Bank unter der Kanzel und kniete dort nieder. Ich weiß nicht, ob sie betete und zu wem, ich dachte nur plötzlich an den Tag, als ich im Dom von Osnabrück auf sie wartete. Damals hatte ich einen Menschen wiedergefunden, den ich nicht gekannt hatte und der mir von Tag zu Tag fremder und vertrauter geworden war. Jetzt war es wieder so, aber sie entglitt mir, ich fühlte das, in einen Bezirk, der keine Namen mehr kannte, nur Dunkelheit und vielleicht unbekannte Gesetze der Dunkelheit - sie wollte es nicht und sie kam zurück, aber sie gehörte nicht mehr so zu mir, wie ich es glauben wollte, sie hatte vielleicht nie so zu mir gehört; wer gehört schon zu wem, und was ist das: Zusammengehören, dieses bürgerliche Wort hoffnungsloser Illusion? Aber immer wieder, wenn sie zurückkehrte, wie sie es nannte, für eine Stunde, für einen Blick, für eine Nacht, kam ich mir vor wie ein Buchhalter, der nicht rechnen soll, sondern ohne Frage hinnehmen, was eine Schweifende, Unglückliche, Geliebte, Verdammte ihm ist! Ich weiß, es gibt andere Namen dafür, billige, rasche und abfällige - aber die mögen für andere Verhältnisse sein und für Menschen, die glauben, daß ihre egoistischen Gesetze Votivtafeln Gottes sind. Einsamkeit sucht Gefährten und fragt nicht, wer es ist. Wer das nicht weiß, war nie einsam, sondern nur allein.
›Worum hast du gebetet?‹ fragte ich und bereute es sofort.
Sie sah mich mit einem sonderbaren Blick an. ›Um das Visum nach Amerika‹, erwiderte sie dann, und ich wußte, daß sie log. Eine Sekunde dachte ich, daß sie um das Gegenteil gebetet hätte; denn immer wieder fühlte ich den passiven Widerstand, den sie der Reise entgegensetzte. ›Amerika?‹ hatte sie einmal nachts gesagt, ›was willst du da? Wozu so weit weglaufen? In Amerika wird es wieder ein anderes Amerika sein, wohin du mußt,
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