Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
das Rezept von Dubois zehn Ampullen Morphium gegeben - wir besaßen also für den Augenblick alles, was wir brauchten.
    Wir saßen am Fenster des Restaurants und sahen auf die Straße. Wir konnten uns diesen Luxus erlauben, weil wir uns eine Woche lang nicht verstecken mußten. Plötzlich erschrak Helen und griff nach meiner Hand. Sie starrte in die wehende Dunkelheit. ›Georg!‹ flüsterte sie.
    ›Wo?‹
      ›In dem offenen Auto dort. Ich habe ihn erkannt. Er ist gerade vorbeigefahren.‹
    ›Hast du ihn bestimmt erkannt?‹
    Sie nickte.
      Es schien mir fast unmöglich. Ich versuchte, bei mehreren vorbeifahrenden Wagen die Leute, die darin saßen, zu sehen. Es gelang mir nicht; aber das beruhigte mich nicht.
      ›Warum sollte er gerade in Marseille sein?‹ fragte ich und wußte sofort, daß er, wenn er irgendwo sein würde, natürlich in Marseille wäre - dem letzten Fluchtort der Emigranten aus Frankreich.
    ›Wir müssen fort von hier‹, sagte ich.
    ›Wohin?‹
    ›Nach Spanien.‹
    ›Ist Spanien nicht noch gefährlicher?‹
      Es bestanden Gerüchte, daß die Gestapo in Spanien wie zu Hause sei und daß Emigranten verhaftet und ausgeliefert worden seien; aber es gab zahllose Gerüchte in dieser Zeit, und man konnte nicht alle glauben.
      Ich versuchte wieder den alten Weg: das spanische Durchreisevisum, das nur gegeben wurde, wenn ein portugiesisches Visum da war; und dies wieder war abhängig von einem Visum für ein anderes Land. Dazu kam dann noch die rätselhafteste aller bürokratischen Schikanen: das Ausreisevisum aus Frankreich.
    Eines Abends hatten wir Glück. Ein Amerikaner sprach uns an. Er war etwas betrunken und suchte jemand, mit dem er englisch sprechen konnte. Nach einigen Minuten saß er an unserem Tisch und traktierte uns mit Getränken. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und wartete auf ein Schiff, um nach Amerika zurückzukehren. ›Warum kommen Sie nicht mit?‹ fragte er.
      Ich schwieg einen Augenblick. Die naive Frage schien das Tischtuch zwischen uns zu zerreißen. Da saß ein Mensch von einem anderen Planeten. Das, was für ihn so selbstverständlich war wie Sprechen, war für uns so unerreichbar wie das Siebengestirn. ›Wir haben keine Visa‹, sagte ich schließlich.
      ›Lassen Sie sich doch morgen welche geben. Unser Konsulat ist hier in Marseille. Sehr nette Leute.‹
    Ich kannte die netten Leute. Es waren Halbgötter; um
    nur ihre Sekretäre zu sehen, wartete man Stunden auf der Straße. Später wurde erlaubt, im Keller zu warten, da öfter Emigranten auf der Straße von Gestapobeamten abgefangen worden waren.
    ›Ich gehe mit Ihnen morgen hin‹, sagte der Amerikaner.
    ›Gut‹, erwiderte ich und glaubte ihm nicht.
    ›Darauf wollen wir trinken.‹
    Wir tranken. Ich sah das frische, ahnungslose Gesicht vor mir und konnte es kaum ertragen. Helen war fast durchsichtig an diesem Abend, als der Amerikaner uns von Broadways Lichtermeer erzählte. Fabelgeschichten in einer finsteren Stadt. Ich sah Helens Gesicht, als die Namen von Schauspielern aufklangen, von Stücken, von Lokalen, von dem ganzen holden Aufruhr einer Stadt, die nie einen Krieg gekannt hatte; ich war elend und trotzdem froh, daß sie zuhörte, denn bisher hatte sie allem, was Amerika hieß, eine sonderbar schweigende Passivität entgegengesetzt. Im Zigarettenrauch der Kneipe gewann ihr Gesicht mehr und mehr Leben, sie lachte und versprach, mit dem jungen Mann in ein bestimmtes Stück zu gehen, das er besonders liebte, wir tranken und wußten, daß am Morgen alles vergessen sein würde.
      Es war nicht vergessen. Um zehn Uhr erschien der Amerikaner, um uns abzuholen. Ich hatte einen Katzenjammer, und Helen weigerte sich, mitzugehen. Es regnete; wir kamen zu dem dichtgedrängten Klumpen der Emigranten. Es war wie ein Traum; wir durchschritten ihn, er teilte sich vor uns wie das Rote Meer vor den israelitischen Emigranten des Pharao. Der grüne Paß des Amerikaners war der Goldene Schlüssel des Märchens, der jedes Tor öffnete.
      Das Unbegreifliche geschah. Nonchalant erklärte der junge Mann, als er hörte, worum es sich handle, daß er für uns bürgen wolle. Es klang mir widersinnig; er war so jung. Mir schien, er müsse für so etwas älter sein als ich. Wir blieben ungefähr eine Stunde im Konsulat. Ich hatte Wochen vorher schon niedergeschrieben, warum wir gefährdet seien. Ich hatte mit Mühe durch Zweite und Dritte über die Schweiz eine Bestätigung bekommen, daß ich in

Weitere Kostenlose Bücher