Die Nacht von Shyness
Ich lasse ihre Feuerwehrhandtasche baumeln.
Auf der westlichen Straßenseite, hinter Wildgirl, herrscht ganz normaler Betrieb. Pizzabuden machen mit blinkenden Lichtern auf sich aufmerksam. Die Leute laufen achtlos mit ihren Einkaufstüten über den Gehweg. Eine gewöhnliche Einkaufsstraße mit hoffnungsvollen Immigrantenläden: asiatische Lebensmittelhändler, Dönerbuden, altmodische Frisiersalons, ein Geschäft, in dem man Bauchtanzkostüme kaufen kann.
Die Grey Street besteht eigentlich aus zwei halben Straßen, die zusammengeflickt wurden. Wie eine Narbe verlaufen die Schienen der Straßenbahn in der Mitte. Die Grenze zwischen zwei Welten.
Es ist eine ganze Weile her, dass ich hier in der Gegend war. Seit einer gefühlten Ewigkeit pendele ich immer nur zwischen meinem Zuhause und dem Diabetic hin und her. Thom und Paul kommen zum Proben rüber,dann gehen wir alle ein Bier trinken. Wenn ich was essen muss, suche ich mir was. Das ist auch schon alles.
Die östliche Seite der Grey Street sieht chaotisch aus. Die Läden, die nicht verrammelt sind, haben eingeschlagene Fenster, drinnen liegen Getränkedosen, Zigarettenstummel und Scherben herum. Jede freie Fläche ist mit Graffiti besprüht. Der Gestank von Pisse, Verbranntem und gammeligem Müll hängt in der Luft. Wenn man nachts nach oben schaut, sieht der Himmel genauso aus wie auf der Westseite, aber alle Straßenlaternen sind kaputt.
»Seit wann ist das schon so?«, ruft Wildgirl.
Einheimische kommen vorbei und beäugen das Mädchen, das laut rufend mitten auf der Straße steht. In Shyness hängt man nicht auf der Straße herum und unterhält sich in voller Lautstärke. Ich seufze und gehe zu ihr, damit wir uns nicht anschreien müssen.
»Drei Jahre sind es jetzt. So um den Dreh. Es hat vielleicht eine Weile gedauert, bevor es jemand mitgekriegt hat. Es fing damit an, dass die Sonne nicht mehr ganz aufging. Ab zwölf Uhr mittags sank sie im Osten wieder. Jeden Tag ging sie ein bisschen weniger auf, bis sie sich schließlich gar nicht mehr zeigte.«
»Und auf der anderen Seite ist alles in Ordnung?«
»Die Grey Street ist die Grenze. Auf dieser Seite: Shyness. Auf der anderen Seite: Panwood.«
»Wodurch wurde das ausgelöst?«
»Keine Ahnung, das weiß niemand.«
Darüber denkt Wildgirl eine Weile nach, ehe sie wieder etwas sagt. Ich nehme ihre Tasche in die andere Hand. Die ist schwerer, als sie aussieht.
»Kennst du dich mit griechischen Göttern aus?«, fragt Wildgirl.
»Nicht besonders.«
»Die griechischen Götter sind genau wie Sterbliche, sie trinken zu viel, zoffen sich und machen es miteinander. Die Sonne steht für Apollo, den Sonnengott, der jeden Tag seinen Sonnenwagen über den Himmel treibt.«
Während Wildgirl redet, läuft sie zurück zum Bürgersteig, ohne nach links und rechts zu gucken. Sie hat Glück, dass hier keine Autos mehr fahren. Wenn ich nicht antworte, hört sie vielleicht auf zu quatschen und wir können weiter.
»Vielleicht hat Apollo ja keine Lust mehr, seinen Wagen zu fahren?«, sagt sie. »Vielleicht streikt er für höheren Lohn?« Ich gebe ihr die Handtasche zurück. Sie klemmt sie unter den Arm und verfolgt den Gedankengang weiter. »Vielleicht lebt er von der Stütze und raucht den ganzen Tag Eimer?«
Ich würde grinsen, wenn ich nicht aus dem Augenwinkel die Schattenbälle sehen würde, die an den Strommasten hinaufsausen und sich wie Trauben auf den Hochspannungsleitungen sammeln. Sie sind heute Nacht draußen, und es sind viele. Ich gehe schneller und hoffe, dass Wildgirl mitkommt. Bei jedem Schritt klimpern ihre Armreifen.
»Jeder hat so seine Theorie«, sage ich. Es macht mich verrückt, wenn die Leute derartigen Scheiß über die Dunkelheit erzählen. Ich geb mich nicht damit ab, über die Gründe nachzudenken, ich sehe einfach zu, wie ich damit klarkomme. Wem die Nacht nicht gefällt, der soll verschwinden.
Ich laufe mit Wildgirl zur großen Straße. Vielleicht können wir bei Lupe einen Döner essen, dann stecke ich sie in ein Taxi und schicke sie nach Hause. Ich glaube, Lupe würde Wildgirl gefallen. Sie haben beide was von einer verrückten Göttin an sich.
»Wenn du willst, dass ich dir glaube, gibt es nur eins.« Wildgirl schaut mich an. Ihre Wangen sind gerötet. »Wir bleiben die ganze Nacht draußen. Du führst mich rum. Dann kann ich selbst sehen, ob die Sonne am Morgen aufgeht.«
»Das ist keine gute Idee.« Noch während ich das sage, denkt ein Teil von mir, dass es eine super Idee ist.
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