Die Nacht von Shyness
Kopf, aber das stört ihn nicht. Er stürzt sich auf mich. Ich beuge mich schützend vor. Der Hocker geht hoch und neigt sich wie in Zeitlupe zur Seite. Ich will mich an der Tischkante festhalten, aber zu spät – ich kippe um.
2
Ich bin schon fast bei ihr, als mir bewusst wird, dass ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll. Sie liegt auf dem Boden, die Haare als schwarzer Heiligenschein um ihren Kopf. Der kahl rasierte Typ neben ihr lacht so sehr, dass man meinen könnte, er übergibt sich. Das Mädchen stützt sich auf die Ellbogen, sie sieht stocksauer aus.
Selbst mir kommt mein Schatten unheilvoll vor. Sie starrt mir direkt ins Gesicht. Ihre Augen sind dick mit Kajal umrandet. Von Nahem sieht sie noch hundert Mal besser aus.
Ich blinzele. Wieso bin ich überhaupt hier rübergekommen?
Vor lauter Panik vergesse ich mich und mache das, was ich am besten kann: Ich heule.
Jedes Fitzelchen Sehnsucht und Verzweiflung an der Bar – und ihr könnt mir glauben, davon gibt es an einem Freitagabend im Diabetic jede Menge – dringt in meine Lunge. Als der Laut mich durchströmt, zittere ich am ganzen Körper. Die Stereoanlage verstummt bebend. Alle Gesichter im Pub sind auf mich gerichtet.
Zum Abschluss stoße ich noch ein paar kurze, schrille Schreie aus, dann bin ich still.
Einer aus der Stadt schnaubt nervös. Die Stammgästeschauen weiter zum Fernseher über der Bar, wo ein Fußballspiel läuft. Es ist ja nicht das erste Mal, dass das passiert.
»Du Vollidiot«, sagt das Mädchen mit einer kalten Stimme, die mir durch die Rippen bis ins Herz schneiden könnte. Der kleine Stein an ihrem Nasenflügel blitzt auf.
Ich bin heute hergekommen, weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen ist. Ich dachte, ich würde Paul oder Thom über den Weg laufen. Eine scharfe Fremde anzuheulen stand nicht auf dem Programm.
»Das liegt in meiner Natur«, antworte ich, und – unglaublich, aber wahr – sie lacht. Sie schüttelt den Arm des Glatzkopfs ab, als wäre er eine lästige Fliege.
»Ich meinte Neil, nicht dich«, sagt sie. »Hilfst du mir mal auf?«
Ach ja. Ich reiche ihr eine Hand und ziehe sie hoch. Sie ist federleicht.
»Kann ich dir was zu trinken holen?«
Sie zögert und sieht kurz zu ihren Freunden hinüber. Die mollige Rothaarige in dem Abendkleid starrt sie an. Der Typ – Neil – richtet sich auf. Er hat die Hände zu Fäusten geballt und die Zähne zusammengebissen.
Ich hebe die Hände und trete einen Schritt zurück. Ich hab die Situation völlig missverstanden. »Ich lass euch in Ruhe. Viel Spaß noch.«
»Klar.« Sie zwirbelt die Haare zwischen den Fingern. »Du kannst mir was zu trinken holen.«
Ich schlucke meine Überraschung runter, und schon gehe ich mit ihr zu meinem Stammplatz an der Theke. Ich spüre, wie die alten Hasen uns beobachten unddas Mädchen anerkennend taxieren. Ich schaue zu Robbie, dem Barkeeper, und hebe zwei Finger. Er haut mit der Hand auf die Anlage, damit sie wieder läuft, dann schenkt er uns zwei Bier ein. Mein Geld will er nicht haben. Mitleidsbiere. Oder Glücksbiere. So oder so kann ich sie gebrauchen.
»Ich bin Wolfboy.«
Sie schüttelt mir die Hand. »Der Name hat wohl was mit dem Heulen zu tun, oder?«
»Stimmt.« Ich stelle das Glas auf die Theke, aber dann weiß ich nicht, wohin mit meinen Händen. Sie verunsichert mich. Ich glaube, ich hab noch nie so glatte, braune Haut gesehen. Sie hat die Augen mit grünem Glitzerlidschatten geschminkt.
»Dann heulst du also für alle Frauen?«
Ich ziehe den Kopf ein. Was soll ich darauf antworten?
»Hey, war nur Spaß!« Sie berührt mich am Arm. »So was hab ich noch nie gehört. Wie machst du das?«
»Ich weiß nicht.«
»Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mir den Kopf richtig schlimm gestoßen und würde komische Sachen hören.«
»Du hast mir noch nicht verraten, wie du heißt.«
Sie schaut auf ihr T-Shirt, dann sieht sie mich wieder an. »Ich heiße Wildgirl, ist doch klar, oder?«
Ich wage es nicht, dorthin zu gucken, wo sie hinguckt, aber ich senke den Blick lange genug, um das Wort WILDGIRL zu lesen, das quer über ihrer Brust steht.
»Ja, aber wie heißt du wirklich?«
»Und du, Wolfboy , wie heißt du wirklich?«
»Alle nennen mich Wolfboy. Du kannst die Stammgäste hier fragen.«
»Okay, dann nenne ich dich auch so. Und ich bin für dich Wildgirl. So einfach ist das.«
Ich weiß nicht, ob es Absicht ist, aber jedes Mal, wenn sie sich auf dem Barhocker bewegt, stößt sie mit ihren Knien
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