Die Nacht zum Dreizehnten
glaube, da sollten wir einmal auf eine Mahlzeit verzichten – besonders hier im Zug, wo wir in fast fünf Stunden keinen Schritt tun.«
»Du widersprichst dir.« Bergmann schmunzelte. »Jetzt bleiben wir sitzen. Wenn wir uns zum Mittagessen angemeldet hätten, dann wären wir wenigstens die paar Schritte bis zum Speisewagen gegangen!«
»Ich habe offen gestanden auch Angst, mein Gepäck allein in einem Abteil zurückzulassen, in dem sonst niemand ist. Man hört immer wieder, daß Diebstähle vorkommen. Und wenn uns hier ein Koffer verschwindet, dann zahlt uns die Bundesbahn keinen roten Heller.« Yvonne nahm ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz und öffnete sie. »Ich habe ein paar Äpfel mitgebracht. Die stillen den Hunger, haben nicht viele Kalorien und führen uns außerdem Vitamine zu.«
»Du ahnst nicht, wie ich mich auf diese Reise freue!« Robert Bergmann nahm Yvonnes Hand. »Es wird genau die Strecke sein, die ich als junger Mensch so oft fuhr. Paris – Marseille, die Maurenküste, mein kleiner Fischerort Cabasson mit dem verlassenen Strand, auf dem sich nur dann und wann ein Zollbeamter zeigte, weil man immer wieder versuchte, von der italienischen Küste aus dort etwas einzuschmuggeln. Es waren schöne Tage. Du warst damals wahrscheinlich noch ein Baby. Deswegen möchte ich diese Zeit mit dir noch einmal erleben.«
»Ich gönne es dir. Ich hoffe nur, daß du alles so vorfinden wirst, wie du es dir erträumst.« Einen Augenblick lang lag ein wehmütiger Ausdruck auf Yvonnes Gesicht. Es sah aus, als ob sie ihren Mann davor warnen wollte, sich allzu vielen Illusionen hinzugeben. Aber als sie den fast kindlich-gläubigen Ausdruck auf Roberts Gesicht bemerkte, nahm sie nur seine Hand und hielt sie fest.
»Ich freue mich auch schon darauf, wenn du mir all' das zeigst, was dir einmal so lieb gewesen ist.«
»Ob ich schon von hier telefoniere? Ich glaube, man kann von diesen Intercity-Zügen anrufen …«
»Ich würde es nicht tun. Das hat ja bis heute abend Zeit. Genieße die Reise. Bitte!« Sie winkte einem Kellner, der mit einem kleinen Wagen draußen vorbeifuhr. »Geben Sie mir eine Tasse Kaffee. Du auch?«
»Ja, ich trinke auch einen Kaffee.« Er schaute zu, wie der Kellner aus einer Isolierkanne zwei Pappbecher mit Kaffee füllte und sie ihnen reichte. »Wenn es weiter so schön ist, dann, glaube ich, lasse ich mich doch bald pensionieren! Als Rentner durch die Gegend reisen, keine Sorgen haben – das stelle ich mir wunderbar vor!«
»Das stellst du dir nur so vor.« Yvonne legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Aber von der Vorstellung bis zur Wirklichkeit ist ein weiter, oft unüberwindlicher Weg. Du bist nicht der Mann, der von heute auf morgen Schluß machen kann, um sich einfach nur noch seinem Vergnügen hinzugeben!«
*
Der Pförtner der Bergmann-Klinik beobachtete eine jüngere Dame, die vor dem Tor stehengeblieben war, einen Brief aus der Tasche holte, ihn las und dann wieder einsteckte. Er war sicher, daß sie die gesuchte Schwester war, von der ihm Chiron eben berichtet hatte. Er sollte sie sofort in den OP schicken, fiel ihm ein.
Er ging aus seiner Loge heraus und trat auf sie zu. »Möchten Sie hier rein?«
Sie schaute ihn erstaunt an. »Im Prinzip schon. Das ist doch die Bergmann-Klinik, nicht wahr?«.
Der Pförtner nickte und zeigte auf ein diskret angebrachtes Schild über dem Eingang. »Da steht es! Zu wem möchten Sie denn?« Seine Augen ruhten fragend auf dem Gesicht der Dame. Sie sah gut aus, stellte er bei sich fest. Man müßte zwanzig Jahre jünger sein! Er seufzte.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte die Besucherin.
»Doch – doch!« Er fühlte sich plötzlich ertappt und hatte das Gefühl, daß die junge Frau vielleicht seine Gedanken erraten könnte. Er errötete über und über. Das Rot bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seinem schlohweißen Haar. »Sie sollen hier eingestellt werden, nicht wahr?«
Die junge Frau fand den alten Pförtner sympathisch und ein wenig komisch. »Ja – so kann man es auch nennen! Hat sich das schon rumgesprochen?«
»Ja! Sie möchten bitte sofort in den OP kommen. Man erwartet Sie dort schon.«
»In den Operationssaal?« Die junge Frau nickte. »Gut, und wie komme ich dahin?«
»Dort ist der Eingang zur Chirurgischen Klinik.« Der knochige Finger des Pförtners zeigte auf die Tür gegenüber der Loge. »Sie gehen da …« Er hielt inne. »Da kommt Oberarzt Bruckner. Der kann Sie am besten mitnehmen. Herr Oberarzt!« rief
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