Die Nachtmahr Wunschträume
auch mein Todestag. Zumindest, wenn es nach den Tagmahren ging. Denn genau in elf Tagen würde David ihr neuer Herrscher werden. Derjenige, der dafür sorgen musste, dass der Krieg zwischen den Tag- und den Nachtmahren endgültig beendet und der neue König der Albträume getötet wurde.
Eigentlich ein schweres Unterfangen, denn die Nachtmahre und auch ihre Herrscher lebten für gewöhnlich ebenso unerkannt unter den Menschen wie die Tagmahre. Bei mir war dieses Inkognito allerdings mehr als schwammig, denn David kannte meinen aktuellen Status nur zu gut. Ihm verdankte ich ihn schließlich. Wenn er nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre, wäre ich immer noch ein ganz normaler Teenager. Ein wenig verschroben, Hormon-geplagt, mit einigen Psychosen und einem latenten Hang zur Paranoia, aber immer noch ein gewöhnlicher Mensch. Um ihn zu retten, hatte ich mich geopfert, meine Zukunft und alles, woran ich je geglaubt hatte aufs Spiel gesetzt, und hatte die Herrschaft über die Nachtmahre angenommen. Etwas, was in meiner Lebensplanung absolut nicht vorgesehen gewesen war. Tja, was soll ich sagen? Dankbarkeit sah für mich anders aus und beinhaltete weder den Tod, noch die Enthauptung des Retters am eigenen Geburtstag. Kein Wunder, dass wir es nicht einmal bei so etwas Einfachem wie einer Liebesbeziehung geschafft hatten. Naja … was hieß hier eigentlich »wir«? Er.
In seiner typischen Ich-schaffe-das-allein-und-du-erfährst-es-als-Letzte-James-Bond-007-Mentalität hatte er mich abserviert, ohne Chance, ohne Erklärung – zumindest ohne echte – und lief jetzt herum, als wäre alles meine Schuld. Und
Alles
meinte
alles seit dem Sündenfall
Natürlich war es umgekehrt ähnlich: Nur zu gerne hätte ich ihn dafür verantwortlich gemacht, dass ich zur Hälfte ein Nachtmahr war. Aber das war der alleinige Verdienst meiner Eltern (also eigentlich die meines Vaters, des Nachtmahrprinzen) und ich konnte nichts daran ändern. Auch konnte ich David nicht wirklich dafür verantwortlich machen, dass er in bester Absicht hatte verhindern wollen, dass ich überhaupt von den Nachtmahren oder meiner königlichen Abstammung erfuhr. Doch ich konnte ihn verdammt noch mal dafür verantwortlich machen, dass seine Handlungen wie bei einer selbst-erfüllenden-Prophezeiung gewirkt hatten und er sich nach seiner Rettung durch mich und seiner danach folgenden Liebeserklärung keine Mühe mehr gegeben hatte. Stattdessen hatte er sich benommen wie ein … ein … Tagmahr. Ein waschechter, überheblicher, wir-sind-die-Guten-und-werdeneuch-alle-töten-Tagmahr. Manchmal war das Schicksal echt ein Arschloch!
»Na super!« Ich gab den Gedanken daran, mich wieder schlafen zu legen auf und notierte den Traum in kurzen Worten auf Seite 70 meines Tagebuches. Es half kein bisschen. Im Gegenteil. Ich fühlte mich noch schlechter als zuvor. Betrogen.
Von David, der seit sechs Monaten kaum mit mir sprach und jeder Frage nach dem »Warum«, oder nach mir und seinem Geburtstag aus dem Weg ging, dem Schicksal und von meinem Leben im Großen und Ganzen. Aber immerhin wusste ich, dass ich mich nicht töten lassen würde. Fliehen oder kämpfend untergehen waren halbwegs vernünftige Alternativen. (Naja, es waren die einzigen.)
Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte mir, dass die Zeit genauso langsam verstrich, wie gefühlt. Seit meinem Hochschrecken waren gerade mal zehn Minuten vergangen.
Seufzend stand ich auf und ging ins Badezimmer. Einen Moment lang blinzelte ich in der plötzlichen Helligkeit, dann entschied ich, dass Zähneputzen und Katzenwäsche reichen mussten. Kurz vertrieb das heiße Wasser alle Gefühle, außer dem taktilen Reiz in meinem Gesicht. Aber diese Erleichterung war nur flüchtig und hielt nicht an. Kaum war der Hahn zugedreht, kehrten meine Sorgen und Ängste zurück. Der Countdown lief, auch wenn ich – das verriet mir ein Blick in den rosa umrandeten Spiegel – aussah wie immer. Andere mochten einen relativ hübschen Schneewittchen-Verschnitt erkennen, ich sah einen störrischen Teenager, der verzweifelt um seine Selbstachtung kämpfte und darum, sich nicht ständig als ungeliebter, wertloser Spielball zu fühlen. Aber das konnte auch an den hormonellen Umbrüchen der Jugend liegen und war vielleicht in Wirklichkeit gar kein Indiz für meine unverarbeitete Vergangenheit. Verdammt! Ich klang schon wie mein eigener Psycho-Dok.
Trotzdem glitten meine Fingerspitzen unwillkürlich von der kalten Spiegeloberfläche, wo sie
Weitere Kostenlose Bücher