Die Nachtmahr Wunschträume
Gelegenheit wieder abgeschoben hatten. Und diese erstbeste Gelegenheit war wahrlich sehr schnell gekommen, genauer gesagt pünktlich an meinem zehnten Geburtstag. An dem hatte ich nach meinem Erwachen eine seltsame Uhr neben meinem Bett gefunden, zusammen mit dem Glückwunschschreiben eines mir bis dato unbekannten Großvaters. Stolz wie Oskar hatte ich die Uhr meinem Stiefbruder David (in den ich zu diesem Zeitpunkt mehr als verliebt gewesen war) zeigen wollen. Leider war der kein bisschen in mich verliebt gewesen, sondern nur von mir angenervt, weswegen mein
stolz wie Oskar-Verhalten
dazu geführt hatte, dass er mich allein im Wald zurückgelassen hatte. Leider fehlte mir an diesem Tag nicht nur mein Hänsel, sondern auch Brot (oder waren es Steine?), um den Weg zurück zu finden. Folglich war ich Davids bestem Freund Jonah in die Hände gelaufen, an der Uhr interessiert gewesen war. Interessiert genug um mich zu bedrohen, sie mir mit Gewalt wegzunehmen – ich war wirklich immer schon sehr stur – und letztendlich in eine Art unterirdischen Abwasserkanal zu sperren. Da mein Glück mit meiner Sturheit mithalten konnte (leider proportional in die andere Richtung), hatte es natürlich angefangen zu regnen. So stark, dass ich beinahe ertrunken wäre. Genau genommen wäre ich ertrunken, wenn nicht ein unheimlicher Schatten im Wasser aufgetaucht wäre, um mich zu retten.
Natürlich hatte mir diese Geschichte niemand geglaubt. Weder das mit der Uhr noch das mit dem Ertrinken oder mit dem Schatten. David, der mich verraten und im Stich gelassen hatte und sein charismatischer bester Freund Jonah bekamen Recht, ich wurde abgestraft. Tante Meg hatte mich als Lügnerin bezeichnet und in ein Erziehungsinternat für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche, aka »Saint Blocks«, gesteckt. Nicht als Warnung oder für eine Nacht, sondern für eine gefühlte Ewigkeit. Fast ein Drittel meines Lebens hatte ich dort verbringen »dürfen« – in meiner persönlichen Hölle.
Einen Teil davon trug ich immer noch in mir und kämpfte Tag für Tag gegen sie, meine Ängste und meine Paranoia an.
»Können wir das Thema wechseln, bitte?«, meinte ich tonlos und verwünschte im Stillen den Stein, unter dem Klaus wieder hervorgekrochen war.
»Ich versuche gerade mich zu entschuldigen«, behauptete er, obwohl sich seine Worte für mich eher wie eine neue Beleidigung anhörten. »Und ich weiß, dass es unentschuldbar ist.«
Kurz sah er so aus, als wolle er meinen Kopf tätscheln. Allein der Gedanke an so eine Geste machte mich wütend. Schließlich war ich kein Kind mehr. Außerdem konnte ich auf seine Entschuldigung pfeifen. Nur wegen ihr fühlte ich mich wieder so wie damals: Verletzlich, gekränkt, degradiert und ausgeliefert.
Klaus, sonst immer beinahe unheimlich aufmerksam, fuhr ungerührt fort: »Und beinahe hätte mich Simons überzeugt, dass du schuld bist …«
Okay. Das war jetzt definitiv mehr Beichte, als ich verkraften konnte. »Woran?«, fragte ich in der Hoffnung, das Thema weg von meinem ehemaligen Schulrektor und in eine andere Richtung lenken zu können. Doch Klaus’ Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »An den schlafenden Mädchen.«
Ich zuckte zusammen und hoffte, dass Klaus die Geste falsch auslegte. Offiziell waren die Vorfälle an meiner Schule vor einem Jahr als hysterische Epidemie kategorisiert worden: Pubertierende Mädchen hatten sich in irgendetwas rein gesteigert, bis sie in eine Art Wachkoma gefallen waren und nicht mehr erwachten. Inoffiziell und in Tagmahrkreisen galt Klaus’ Best-Buddy Rektor Simons als der Schuldige, der die Mädchen in Träumen festgehalten hatte, um mich loszuwerden. Und da mein ehemaliger Schuldirektor tot war, gab es niemandem, der widersprach. Schließlich waren die Mädchen nach seinem Tod wieder erwacht und niemand konnte beweisen, dass Simons mit einem Nachtmahr zusammengearbeitet hatte.
Eine ganze Zeitlang hatte alles wirklich so ausgesehen, als wäre
ich
diejenige, die für das Wachkoma der Mädchen verantwortlich war. Hölle! Eine Zeitlang hatte sogar ich in Betracht gezogen, schuldig zu sein. Denn es hatte nur Mädchen getroffen, die ich nicht ausstehen konnte und mit denen ich kurz zuvor aneinander geraten war. Und dann war da natürlich noch die Uhr meines mysteriösen Großvaters, die ich Jonah kurz vor den Schlafvorfällen erfolgreich abgenommen hatte. Erst durch sie hatte ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt und begriffen, dass meine Eltern
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