Die Nachzüglerin (German Edition)
denen er
frei hatte. Inzwischen wusste ich nicht mehr, wie seine
Hand roch. Bestimmt roch sie anders, denn er
arbeitete jetzt für den Konzern, der den Müttern in der
dritten Welt das Milchpulver verkauft hatte. Viele
Säuglinge
waren
gestorben,
weil
ihnen
die
Abwehrkräfte fehlten, oder weil die Mütter sich das
weiße Pulver nicht mehr leisten konnten. Mir graute
vor dem schwarzen Koffer, den er mit sich
herumschleppte.
Ich nickte ein und träumte von den Gräbern, an denen
die Mütter mit ihren nackten Brüsten saßen, aus denen
kein Tropfen mehr herauskommen wollte. Die Stimme
des Schaffners weckte mich.
"Die Bahnpolizei wird sie in Schwandorf abholen.
Wenn Sie kein Geld und keinen Ausweis haben,
können wir Sie nicht weiterfahren lassen. Das wissen
Sie doch. Sie können doch nicht einfach in einen Zug
einsteigen."
Ich stand auf und ging in den Gang hinaus. Ein
hagerer Mann staunte den Zugbegleiter mit großen
Augen an. Weil ich keinen einzigen Satz mehr von ihm
hören wollte, und weil ich noch Geld von meinem
Vater übrig hatte, mischte ich mich in die
"Unterhaltung" ein: "Ich bezahle für den Herren."
Der Schaffner blickte wortlos erst auf mich, dann auf
den blinden Passagier, als wären wir eine Sorte des
gleichen Unrats und widmete sich dann seinem
Fahrkartendrucker.
Ohne sich bei mir zu bedanken, schlich sich der
Schwarzfahrer in einen anderen Waggon. Ich machte
mir Vorwürfe. Vielleicht wollte er erwischt werden.
Vielleicht wäre das seine Rettung gewesen. Jetzt
musste er sich einen neuen Zug suchen, damit ihn die
Polizei endlich aufgreifen konnte. Vielleicht demütigte
ihn mein Geld mehr als eine Verhaftung. Vielleicht
war er krank und brauchte dringend Medikamente.
Auf der Kundgebung angekommen lief mir Alexej
über den Weg. Er löste sich von seinen Freunden und
hob leicht die Hand, als er auf mich zukam.
"Endlich bist du da."
"Mein Vater hat mich an der Autobahn aufgefischt."
Alexej nickte nur und drückte mich kurz an sich. Er
stand unter Strom, wirkte wie frisch gebadet und
einem Brunnen entstiegen, doch er fieberte nicht
meinetwegen, sondern weil die Demonstration gleich
beginnen würde. Wir lauschten den Reden der
Kundgebung, während es dunkel wurde. Die
Bauarbeiten gingen zügig voran. Der Zaun war
beleuchtet. Schreie und Motorengeräusche hallten
durch die Nacht. Frierend stand ich im deutschen
Wald. Allmählich verwandelte sich der Abendtau in
einen kaum sichtbaren Nebel, der vor den nass
glänzenden
Gummirädern
der
Polizeifahrzeuge
aufstieg.
"Warum lässt diese Frau sich fotografieren?", fragte ich
Alexej. Ein Polizeibeamter mit einer riesigen Kamera
forderte eine Frau auf, sich auf die Seite zu drehen,
bevor er eine Aufnahme im Profil schoss. "Sie wird
erkennungsdienstlich behandelt."
Blaulichter ließen die Tannen aufblitzen. Über ihnen
kreisten Hubschrauber. Sie schlugen ihre Scheinwerfer
durch die Dunkelheit, den Menschen nach, die sich zu
Ketten aufreihten und einen Zug bildeten. Wir gingen
am Zaun entlang, der von der Polizei umstellt war. Als
die anderen anfingen zu rennen, rannten wir auch. Ich
konnte an Alexejs Seite gehen, fest an ihn gedrückt wie
sonst nicht und bekam ein schlechtes Gewissen, weil
ich es genoss. Als einer der Hubschrauber über uns
stehen blieb, hielt der Zug plötzlich an, und Alexej
wurde von mir weggerissen. Ich wollte seinen Arm
nicht loslassen, ich wollte seine Wärme behalten. Sie
schlugen auf ihn ein und schleppten ihn weg. Beim
Rennen durch den Wald stieß ich mir den Kopf an
und heulte wie ein Kind.
Ich musste Alexej suchen. An einem Einsatzwagen
stand eine Gruppe von Polizeibeamten. Sie hatten die
Helme und Schilder abgenommen. Ich sprach einen
von ihnen an: "Wo werden die Verhafteten
hingebracht?"
"Die meisten sind nach Amberg gekommen, aber
manche auch nach Regensburg."
Wieder stellte ich mich an die Straße. Ein Opel Kadett
hielt mit quietschenden Reifen. Der Fahrer war ein
Hardrockfan, der in seinen Club wollte. "Ich muss
nach Amberg zum Knast."
"Steig ein." Er interessierte sich nicht für mich. Die
Stereoanlage hämmerte. Ab und zu nahm er einen
kräftigen Schluck aus einer Bierdose, die er sich neben
den Sitz geklemmt hatte. Als er die Dose geleert hatte,
knickte er sie, warf sie nach hinten und griff sich eine
neue vom Rücksitz. Als ich ausstieg, rauschten mir die
Ohren von Judas Priest.
Er setzte mich vor dem Gefängnis ab. Die Stadt lag
menschenleer und still. Nur vor der Haftanstalt hatten
sich rund zwanzig Demonstranten versammelt.
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