Die nächste Begegnung
ist uns nicht ...«
Nicole scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort und trat an die Außenwand ihrer Zelle. Nur zwei Briefe, sagte sie zu sich selber und atmete tief durch, um Kraft zu sammeln. Nur zwei Briefe wollte ich schreiben. Einen an Katie, einen an Richard. Mit allen andren habe ich abgeschlossen.
Dann dachte sie an die langen Stunden zurück, die sie in der Grube in Rama II verbracht hatte, vor vielen Jahren; und wie sie damals geglaubt hatte, sie würde dort verhungern müssen. Damals hatte sie die letzten Stunden (wie sie annahm) ihres Lebens damit ausgefüllt, dass sie im Geiste die glücklichsten früheren Erlebnisse noch einmal durchlebte. Das ist diesmal nicht nötig, dachte sie. Es gibt nichts in meiner Vergangenheit, was ich nicht bereits gründlich erforscht und gewogen hätte. Das sind so die Vorteile, wenn man seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt.
Dann stellte sie überrascht fest, dass es sie zornig machte, dass man sie diese letzten zwei Briefe nicht schreiben lassen wollte. Ich sprech sie morgen noch einmal darauf an. Sie werden mich die Briefe schreiben lassen, wenn ich nur richtig Krach schlage. Trotz allem musste sie lächeln. »Geh nicht sanft und lämmerfromm ...«, zitierte sie laut.
Und auf einmal raste ihr Puls wieder heftig. Sie sah einen elektrischen Stuhl in einem sonst dunklen Raum. Sie saß darin; auf dem Kopf war ein eigenartiger Helm befestigt. Der Helm begann zu glühen, und sie sah, wie sie selbst nach vorne zusammensank.
Gütiger Gott, dachte sie, wo immer und was immer du bist, bitte verleih mir jetzt etwas Kraft und Mut. Denn ich habe große Angst.
In der Finsternis setzte sie sich auf ihre Pritsche. Ein paar Minuten später ging es ihr besser, und sie war beinahe ruhig geworden. Sie überlegte, wie der Augenblick des Todes sein würde. Wie Einschlafen — und dann nichts mehr? Oder geschieht in diesem allerletzten Augenblick etwas Besonderes, etwas, das kein Lebender jemals wissen kann?
Aus weiter Ferne rief eine Stimme nach ihr. Nicole bewegte sich, wachte jedoch nicht völlig auf.
Benommen ri chtete sie sich auf dem Lager auf. Sie dachte, es sei bereits Morgen. Eine Woge von Furcht schoss durch sie hindurch, als ihr ihr Gehirn sagte, dass sie nur noch zwei Stunden zu leben hatte.
»Mrs Wakefield«, sagte die Stimme, »hier drüben, vor deiner Zelle ... Ich bin es, Amadou Diaba..
Nicole rieb sich die Augen und spähte nach der Schattengestalt im Dunkel vor ihrer Zellentür. »Wer?«, fragte sie benommen und stolperte ans Gitter.
»Amadou Diaba. Vor zwei Jahren hast du Dr. Turner bei meiner Herztransplantation assistiert.«
»Was machst du hier, Amadou? Und wie bist du hereingekommen?«
»Ich habe dir etwas gebracht. Ich hab alle wichtigen Leute bestochen. Ich musste dich einfach sehen.«
Obwohl der Mann keine fünf Meter entfernt war, konnte sie nur einen vagen Schemen erkennen. Und ihre übermüdeten Augen ließen sie zudem noch im Stich. Als sie sich besonders anstrengte, die Gestalt schärfer zu sehen, hatte sie kurz den Eindruck, der Besucher sei ihr Urgroßvater Omeh. Ein scharfes Frösteln überlief sie.
»Also, Amadou., sagte sie schließlich. »Was hast du mir gebracht? «
»Dazu muss ich dir erst etwas erklären«, erwiderte der Mann. »Und auch dann ergibt es vielleicht keinen Sinn ... Ich verstehe es selber auch nicht ganz. Ich weiß nur, dass ich dir das heute Nacht b ri ngen muss.«
Er verstummte. Als Nicole nichts dazu sagte, begann Amadou sehr rasch seine Geschichte zu erzählen:
»Am Tag, nachdem der Bescheid kam, dass ich für die Lowell Colony ausgewählt worden war — ich war damals noch in Lagos —, erhielt ich eine seltsame Botschaft von meiner Senoufo-Großmutter, die mir eindringlich befahl, sie sogleich zu besuchen. Ich fuhr bei nächster Gelegenheit, zwei Wochen später, zu ihr, nachdem ich noch eine zweite Nachricht von ihr erhalten hatte, in der sie mich drängte und meinen Besuch als eine Sache von >Leben und Tod< bezeichnete.
Als ich in ihrem Dorf an der Elfenbeinküste ankam, war es tiefste Nacht. Meine Großmutter erwachte und zog sich sofort an. Noch in derselben Nacht gingen wir in Begleitung des Dorfzauberers auf eine lange Wanderung über die Steppe. Als wir unser Ziel erreichten, war ich ganz erschöpft. Es war ein kleines Dorf namens Nidougou.«
»Nidougou?«, unterbrach ihn Nicole.
»Ja, genau«, erwiderte Amadou. »Also, und dort war ein seltsamer uralter verhutzelter Mann, der so eine Art von Oberschamane
Weitere Kostenlose Bücher