Die nächste Begegnung
dass sie sich so erschöpft fühlte. Die zwei Jahre Gefängnishaft hatten doch mehr von ihrer legendären unbeugsamen Kraft aufgezehrt, als sie für möglich gehalten hätte.
Langsam schritt sie auf die Geschworenenbank zu: vier Männer, zwei Frauen. Die eine Frau in der vorderen Reihe, Karen Stolz, stammte ursprünglich aus der Schweiz. Mr und Mrs Stolz waren recht gute Bekannte gewesen, als sie die Bäckerei in der Seitenstraße gleich neben dem Wakefield- Haus in Beauvois betrieben.
Nicole stellte sich direkt vor den Geschworenen auf. Die saßen in zwei Reihen hintereinander. »Grüezi nachher, Karen«, sagte Nicole ruhig. »Was machen John und die Marie? Die müssen doch inzwischen richtige Teens sein.«
Mrs Stolz ruckte unbehaglich auf ihrem Platz umher. »Ach, denen geht's gut, Nicole«, antwortete sie kaum vernehmlich.
Nicole lächelte. »Und ihr backt immer noch diese wunderbaren Zimtbrötchen am Sonntagmorgen?«
Der Hammer des Richters dröhnte durch den Gerichtssaal. »Mrs Wakefield«, sagte Richter Nakamura, »hier ist wohl kaum der rechte Ort noch die rechte Zeit für nette Plaudereien. Das Abschlussplädoyer der Verteidigung ist auf eine Dauer von fünf Minuten angesetzt, und die Uhr läuft bereits.«
Nicole schenkte dem Richter keine Beachtung. Sie lehnte sich über die Barriere vor der Geschworenenbank und betrachtete intensiv das prachtvolle Halsgeschmeide, das Frau Stolz trug. »Die Steine sind wunderbar«, sagte Nicole flüsternd. »Aber die hätten es sich bestimmt noch viel, viel mehr kosten lassen.«
Und wieder knallte der Richterhammer nieder. Zwei Gerichtsdiener liefen auf Nicole zu, doch die hatte sich bereits von Mrs Stolz entfernt. »Meine Damen und Herren Geschworenen«, sagte Nicole, »die ganze Woche hindurch habt ihr mitanhören müssen, wie die Staatsanwaltschaft immer wieder die Behauptung aufgestellt hat, ich hätte die Menschen zum Widerstand gegen die legitime Regierung von New Eden angestachelt. Wegen dieser unterstellten Aktivitäten stehe ich hier vor Gericht unter der Anklage der >Aufwiegelei<. Ihr, die Geschworenen, müsst nun anhand des in diesem Verfahren vorgelegten Beweismaterials entscheiden, ob ich im Sinne der Anklage schuldig bin. Bitte bedenkt bei eurer Urteilsfindung, dass das mir zur Last gelegte Verbrechen — Volksverhetzung, aufrührerische Tätigkeit und so weiter — ein Kapitalverbrechen ist und dass ein Schuldspruch zwangsläufig die Todesstrafe bedeutet ... Ich möchte in meinem Schlussplädoyer mit höchster Genauigkeit untersuchen, wie die Anklage ihren Fall aufgebaut hat. Die Zeugenaussagen am ersten Verhandlungstag, die samt und sonders überhaupt nichts mit den gegen mich erhobenen Beschuldigungen zu tun hatten und — meiner Überzeugung nach — von Richter Nakamura in eindeutiger Missachtung der Verfahrenskodizille unsrer Kolonie bezüglich der Beweisaufnahme in Kapitalstrafverfahren in den Prozess zugelassen wurden ...«
»Mrs Wakefield«, unterbrach Richter Nakamura sie wütend, »ich habe bereits einmal in dieser Woche deutlich und nachdrücklich erklärt, dass ich in meinem Gericht derartige Respektlosigkeiten nicht dulde. Noch eine solche Äußerung, und ich belege dich wegen Missachtung des Gerichts mit einer Strafe. Außerdem werde ich mir überlegen, ob ich nicht die Fortsetzung deines Schlussplädoyers überhaupt untersage.«
»Den ganzen Tag lang versuchte die Vertretung der Anklage nachzuweisen, dass ich eine Person von fragwürdiger Sexualmoral sei ... also aus diesem Grund irgendwie besonders wahrscheinlich zu politischer Konspiration neige. Meine Damen und Herren Geschworenen, ich bin willens und gern bereit, mit euch privat über die ungewöhnlichen Umstände zu sprechen, die zur Empfängnis jedes meiner sechs Kinder führten. Jedoch kann und darf mein Sexualleben — in der Vergangenheit, Gegenwart oder auch in Zukunft — überhaupt keine Rolle in dem hier geführten Prozess spielen. Abgesehen von einem gewissen allgemeinen Unterhaltungscharakter war die Beweisvorlage der Anklage an diesem ersten Tag vollkommen bedeutungslos für das Verfahren.«
In der dichtbesetzten Zuschauergalerie kam hier und da unterdrücktes Gelächter auf, aber die Wachen dämpften es sofort. »Das nächste Zeugenaufgebot der Anklage«, fuhr Nicole fort, »beanspruchte stundenlang eure Aufmerksamkeit, um meinen Ehemann in meine hochverräterischen Aktivitäten zu verwickeln. Nun, ich gestehe freimütig ein, ich bin mit Richard Wakefield verheiratet.
Weitere Kostenlose Bücher