Die naechste Frau
beschweren. Ihre Mutter wird hier sehr gut versorgt. Ich rate Ihnen dringlich, sich hier angemessen zu verhalten und meine Mitarbeiter nicht bei der Ausführung ihres Tagesgeschäfts zu behindern. Falls Sie noch Gesprächsbedarf haben, kommen Sie nachher in mein Büro. Sie finden es im Erdgeschoss.“
Mit diesen Worten öffnete sie die Tür. Die Angehörige verließ das Stationszimmer tatsächlich wieder. Alex wartete, bis sie draußen war, dann ließ sie die Tür wieder ins Schloss fallen und wandte sich an ihre Mitarbeiterin.
„Und das hätten Sie nicht selbst hinbekommen?“ Alex’ Tonfall war leicht provokativ. Warum ließ Jaqueline so mit sich umspringen?
„Was?“, fragte Jaqueline verständnislos.
„Dass Sie dieser Angehörigen Grenzen setzen, dass Sie sich wehren?“, schlug Alex vor.
Jackie sah aus, als wäre sie nie auf diese Idee gekommen. „Darf ich das? Ich meine, äh, was hätte ich …“ Dann versiegte ihr Redefluss. Offensichtlich wusste sie nicht mehr weiter.
„Was war der Auslöser für dieses entgleiste Verhalten?“, half Alex ihr wieder auf die Sprünge.
„Ich kann es Ihnen nicht mal genau sagen. Im Prinzip ist es auch egal. Sie findet immer etwas, was ihr nicht passt. Entweder, weil ihre Mutter die Schuhe verkehrt herum an oder das Unterhemd über dem Pullover angezogen hat. Frau Müller kann so etwas nicht akzeptieren. Sie denkt immer, wir würden nicht richtig nach ihrer Mutter sehen.“
Alex sah ein, dass es für einen Laien manchmal wie Vernachlässigung wirkte, wie so manch ein Patient auf der Station herumlief. Aber das durften sie bei ihnen eben, dazu waren sie nun mal eine geschützte Station. Sie griffen hier nicht sofort korrigierend ein und verbesserten, was demente Menschen mit Stolz selbst noch geschafft hatten. Und wenn sich ein Bewohner eben ungewöhnlich anzog, dann durfte er so bleiben, wenn er sich selbst und andere nicht gefährdete.
Sie würde sich darum kümmern, diese Frau beim nächsten Vortrag über Demenz einzuladen, um ihre Wissenslücke zu schließen. Sie war ja zu vielem bereit, aber nicht dazu, einen derartigen Tonfall durchgehen zu lassen. „Und warum lassen Sie sich das jetzt gefallen?“
Jaqueline sah sie erneut verblüfft an. „Was sollten wir dagegen tun? Ich kann mir die Angehörigen nicht aussuchen.“
„Setzen Sie ihr Grenzen, Jaqueline. Und falls Sie das in einem höflichen, bestimmten Ton nicht hinbekommen, dann üben Sie es. Ich melde Sie gerne zu einer Fortbildung für Konfliktmanagement oder Rhetorik an. Falls Sie es bis dahin noch nicht schaffen, rufen Sie mich bitte früher, bevor der ganze Wohnbereich in Angst und Schrecken versetzt wird.“
„Ja, danke“, hörte Alex Jaqueline sagen. Es fiel ihr auf, wie ihre Mitarbeiterin sie verwundert ansah. „Ihre Dokumentation ist übrigens wirklich gut“, fuhr sie fort und sah ihr direkt in die Augen, aber sie war sich nicht sicher, ob ihre Mitarbeiterin dieses Lob überhaupt zur Kenntnis nahm. „Und setzen Sie sich zukünftig nicht mehr auf Ihren Schreibtisch. Das ist gegen die Hygienevorschrift.“
Jaqueline nickte nur, wandte ihren Blick nicht ab. Nur ihre Lippen bewegten sich in ihrem Gesicht. „Ja.“
Alex verließ den Raum und warf beim Hinausgehen noch einen Blick in die Runde. Es war wieder Ruhe eingekehrt, trotzdem die Angehörige mit ihrer Mutter im Aufenthaltsraum geblieben war. Kaum vorstellbar, dass sie vor fünf Minuten noch umhergeschrien hatte. Hildegard Müller blickte nicht auf, als Alex an ihr vorbei ging. Dafür konnte sie die Blicke der beiden Helferinnen in ihrem Rücken spüren, bis sie den Wohnbereich wieder verlassen hatte.
Kapitel 10
Jackie musste sich setzen. Ihr Herz schlug gegen ihre Rippen. Das hätte sie nie gedacht!
Sie war verzweifelt gewesen, als sie sich nicht mehr zu helfen gewusst und die Nummer gewählt hatte. Sie konnte sich kaum dazu überwinden, ihre Chefin um Hilfe bitten, nach dieser Abfuhr bei ihrer letzten Begegnung. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, zukünftig unauffällig und gewissenhaft ihrer Arbeit nachzugehen. Und dann passierte so etwas: Kam die Müller her und brüllte herum! Sie war hilflos gewesen, sie gab es ja zu, sie hatte diese Frau nicht zur Räson bekommen. Ihre Helferinnen hatten sie schon ganz unsicher angesehen und so hatte sie in ihrer Not zum Telefon gegriffen, mit der Gewissheit, nun schon wieder eins auf den Deckel zu bekommen.
Aber nichts in der Art war geschehen. Im Gegenteil! Ihre Vorgesetzte hatte
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