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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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streng. »Also werde ich ihm einen geben. Er soll Primus heißen, denn er ist das erste Kind von Octavus.«
    Primus war jetzt in seinem vierten Lebensjahr. Der bleiche Junge lebte in seiner eigenen Welt, streifte im Hospiz und dessen Umgebung umher, entfernte sich jedoch nie weit und brachte weder für Gegenstände noch für Menschen irgendein Interesse auf. Wie Octavus war er stumm, hatte schmale grüne Augen und eine ausdruckslose Miene. Ab und zu kam Paulinus, nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Skriptorium, wo sie die Treppe zur Kammer seines Vaters hinabstiegen. Dann betrachtete Paulinus die beiden, als musterte er überirdische Gestalten, und achtete auf Zeichen, aber sie waren einander gleichgültig. Octavus schrieb mit ununterbrochenem Eifer weiter, der Junge lief verträumt im Raum umher, ohne irgendwo anzustoßen, aber anscheinend auch ohne etwas wahrzunehmen. Die Federkiele interessierten ihn ebenso wenig wie die Tinte, das Pergament oder die Schriftzeichen, die aus Octavus’ Hand flossen.
    Regelmäßig erstattete Paulinus Josephus Bericht. »Der Junge hat keinerlei Neigungen gezeigt«, sagte er, worauf sich die beiden alten Männer achselzuckend ansahen und mit schleppendem Schritt zum Gebet gingen.
     
    Es war ein frischer Herbstnachmittag. Frost kündigte sich an. Die sinkende Sonne war rot wie die Blütenblätter der Ringelblumen. Josephus ging langsam über das Klostergelände, in Meditation und ein stummes Gebet um die Liebe Gottes und sein Seelenheil versunken.
    Er dachte oft an sein Seelenheil. Seit Wochen hatte er bemerkt, dass sein Urin sich zuerst braun und dann kirschrot verfärbt hatte, und bald hatte er auch seinen gesunden Appetit verloren. Seine Haut wurde schlaff und lohfarben, und das Weiße in seinen Augen war trüb geworden. Wenn er sich vom Gebet erhob, hatte er das Gefühl, als treibe er im Wasser, und er musste sich festhalten. Er brauchte weder den Bader noch Paulinus zurate zu ziehen. Er wusste, dass er dem Tod geweiht war.
    Oswyn hat den Abschluss der Bauarbeiten an der Abtei nicht erlebt, und ich werde ihn ebenso wenig erleben, dachte er, aber die Kirche, das Skriptorium und der Kapitelsaal waren fertig, und die Arbeit an den Dormitorien ging voran. Vor allem aber beschäftigte ihn Octavus’ Bibliothek. Er hatte ihren Zweck nie ergründen können, und er versuchte es auch nicht mehr. Er wusste nur eines:
    Sie war da.
    Sie war göttlich.
    Eines Tages würde Christus der Herr ihren Zweck offenbaren.
    Sie musste geschützt werden.
    Sie musste wachsen können.
    Doch wenn er sah, wie bei jedem Wasserlassen langsam das Blut aus ihm strömte, fürchtete er um seinen Auftrag. Wer würde die Bibliothek behüten und verteidigen, wenn er nicht mehr war?
    Aus der Entfernung sah er Primus im Gemüsegarten auf der Erde sitzen, einer kargen, abgeernteten Parzelle neben dem Hospiz. Der Junge war allein, was nicht ungewöhnlich war, da sich seine Mutter kaum um ihn kümmerte. Er hatte ihn eine Weile nicht mehr gesehen und war neugierig genug, ihn heimlich zu beobachten.
    Primus war inzwischen fast so alt, wie es Octavus gewesen war, als Josephus ihn in seine Obhut genommen hatte, und die Ähnlichkeit war geradezu verblüffend. Das gleiche rötliche Haar, der gleiche blasse Teint, der gleiche schmächtige Leib.
    Als er noch etwa dreißig Schritte entfernt war, blieb Josephus jählings stehen, er spürte, wie sein Herz zu rasen begann, und ihm wurde schwindlig. Hätte er sich nicht angewöhnt, stets einen Wanderstab bei sich zu haben, wäre er ins Taumeln geraten. Der Junge hatte einen Stock in der Hand. Dann kratzte er damit in weiten, schwungvollen Bewegungen auf der Erde herum.
    Er schrieb, davon war Josephus überzeugt.
     
    Ungeduldig erwartete Josephus den Abschluss der None. Als sich die Ordensleute zerstreuten, tippte er dreien von ihnen auf die Schulter und zog sie in eine Ecke des Kirchenschiffs. Dort beriet er sich mit Paulinus, Magdalena und José. José gehörte ihrem innersten Kreis an, seit der junge Mönch die Schändung Marys entdeckt hatte. Josephus hatte seine Entscheidung, sich ihm anzuvertrauen, nie bereut. Der Iberer war ruhig, klug und absolut verschwiegen. Zudem wurden der Abt, die Priorin und der Astronom allmählich alt; sie schätzten Josés Schwung und Tatkraft.
    »Der Junge hat angefangen zu schreiben«, wisperte Josephus. Trotz des Flüsterns hallten seine Worte in dem mächtigen Kirchenschiff wider. Sie bekreuzigten sich. »José, bring den Jungen in Octavus’

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