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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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später stand ein Wagen bereit, der sie zum Flughafen bringen sollte. Will packte seinen Aktenkoffer. Er warf einen Blick auf die Uhr und fragte sich, weshalb Nancy sich verspätete. Trotz seines schlechten Einflusses war sie stets pünktlich gewesen.
    Dann hörte er das Klacken von Sue Sanchez’ Stöckelschuhen, das rasch näher kam, und sein Magen zog sich zusammen, als wäre er ein Pawlow’scher Hund.
    Er blickte auf und sah sie mit angespannter Miene und gehetztem Blick an seine Tür kommen. Sie hatte ihm etwas mitzuteilen, brachte aber die Worte nicht schnell genug heraus.
    »Susan. Was ist? Wir müssen den Flug erreichen.«
    »Nein, müssen Sie nicht.«
    »Wie bitte?«
    »Benjamin hat gerade einen Anruf aus Washington bekommen. Sie sind von dem Fall abgezogen. Lipinski auch.«
    »Was?«
    »Unbefristet. Unbefristet abgezogen.« Sie rang regelrecht um Atem.
    »Und warum, verflucht nochmal, Susan?«
    »Ich habe keine Ahnung.« Er sah, dass sie die Wahrheit sagte. Sie stand kurz vor einem hysterischen Anfall und bemühte sich um eine professionelle Haltung.
    »Was ist mit der Festnahme?«
    »Ich weiß absolut gar nichts, und Ronald hat gesagt, ich soll keine Fragen stellen. Das ist viel weiter oben entschieden worden. Da geht irgendeine Riesensache vor.«
    »Das ist doch Blödsinn. Wir haben den Mörder!«
    »Ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll.«
    »Wo ist Nancy?«
    »Ich habe sie nach Hause geschickt. Sie wollen nicht, dass ihr beide weiter zusammenarbeitet.«
    »Und warum das?«
    »Ich weiß es nicht, Will! Befehle!«
    »Und was soll ich jetzt machen?«
    Sie schien sich äußerst unbehaglich dabei zu fühlen, offiziell eine Entscheidung vertreten zu müssen, die sie nicht verstand.
    »Nichts. Man möchte, dass Sie gar nichts weiter tun. Soweit es Sie betrifft, ist der Fall abgeschlossen.«

12. Oktober 799 – Vectis, Britannien
    Als das Kind zur Welt kam, weigerte sich Mary, ihm einen Namen zu geben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass dieses Kind ihres war. Octavus hatte es grob in sie gepflanzt, und sie konnte nur zusehen, wie ihr Leib schwerfälliger wurde, während ihre Zeit näher rückte, und die Schmerzen bei der Geburt ertragen, so wie sie die Zeugung ertragen hatte.
    Sie stillte das kleine Wesen, weil ihre Brüste voller Milch waren und sie dazu angehalten wurde, doch sie blickte nicht auf seinen Mund, wenn es trank, und strich ihm nicht übers Haar, wie es die meisten Mütter tun, wenn sie ihrem Kind die Brust geben.
    Nach ihrer Schändung musste sie das Dormitorium der Schwestern verlassen und im Gästehospiz wohnen. Dort war sie abgeschirmt von den neugierigen Blicken und dem Klatsch der Novizinnen und Schwestern und konnte ungestört ihr Kind austragen, denn die Besucher, die ins Gästehaus kamen, wussten nichts von ihrer Schande. Sie wurde gut versorgt, durfte spazieren gehen und im Gemüsegarten arbeiten, bis sie zu unbeweglich und kurzatmig wurde. Alle, die sie kannten, bedauerten, dass sich auch ihr Wesen so veränderte. Ihre Lebhaftigkeit und ihr Frohsinn waren verflogen und hatten einer übermächtigen Schwermut Platz gemacht. Selbst Priorin Magdalena beklagte insgeheim, dass Mary so still geworden war und ihre jugendlich roten Wangen jegliche Farbe verloren hatten. Jetzt konnte das Mädchen nicht mehr in den Orden aufgenommen werden. Wie könnte sie? Und es war ihr auch nicht möglich, in ihr Dorf auf der anderen Seite der Insel zurückzukehren – ihre Angehörigen würden nichts mehr mit ihr, einer entehrten Frau, zu tun haben wollen. Sie befand sich in einer Art Limbus, einem Zwischenreich, wie ein ungetauft verstorbenes Kind, dessen Seele nicht in den Himmel eingehen kann.
    Als das Kind geboren wurde und alle die rotblonden Haare sahen, die milchige Haut und das teilnahmslose Antlitz, kamen der Abt und Paulinus zu dem Schluss, dass Mary ein Werkzeug war, vielleicht ein Werkzeug Gottes, das man ebenso umhegen und beschützen musste wie das Neugeborene. Es war zwar keine Jungfrauengeburt gewesen, doch die Mutter hieß Mary, und um das Kind war etwas Besonderes.
    Eine Woche nach der Geburt kam Magdalena zu Mary und fand sie im Bett liegend und geistesabwesend an die Decke schauend. Das Baby schlief in seiner Krippe auf dem Boden.
    »Nun, hast du schon einen Namen für ihn?«, fragte die Priorin.
    »Nein, Schwester.«
    »Gedenkst du dem Kind einen Namen zu geben?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Mary teilnahmslos.
    »Jedes Kind muss einen Namen haben«, erklärte Magdalena

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