Die Namen der Toten
um herauszufinden, was sein Vater von seinem Leben, seiner Familie und seinem Sohn hielt. Aber dieses Wissen war mit Phillip Weston Piper gestorben.
Will dachte selten über Religion oder Philosophie nach. In seinem Beruf drehte sich im Grunde alles um den Tod, und seine Vorgehensweise bei einer Ermittlung beruhte streng auf Fakten. Manche Menschen lebten, andere starben – waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Das Ganze hatte etwas furchtbar Willkürliches an sich.
Seine Mutter war eine regelmäßige Kirchgängerin gewesen, und wenn er sie besuchte, begleitete er sie immer zur First Baptist Church in Panama City. Dort fand auch die Trauerfeier für sie statt, als der Krebs sie umgebracht hatte. Will hatte genug von dem Gerede über Gottes Wille und göttliche Pläne. Er hatte in der Schule das eine oder andere über Kalvinismus und Prädestination gelesen. Alles Quatsch, hatte er immer gedacht. Chaos und Willkür regierten die Welt. Es gab keinen verborgenen Plan.
Offenbar hatte er sich geirrt.
Er öffnete die Augen und warf erneut einen Blick in den Garten. Die Polizei von Beverly Hills war in voller Mannschaftsstärke angerückt. Weitere Sanitäter und Notärzte trafen ein. Will nahm den Laptop aus dem Aktenkoffer und klappte ihn auf. Der Energiesparmodus hatte sich angeschaltet. Als Will den Laptop hochfuhr, verlangte das Einlog-Fenster von Shackletons Datenbank ein Passwort. Will brauchte drei Versuche, um Pythagoras richtig zu schreiben. So viel zu seiner Harvard-Ausbildung.
Eine Suchmaske tauchte auf: Namen eingeben, Geburtsdatum eingeben, Sterbedatum eingeben, Stadt eingeben, Postleitzahl eingeben, Straße und Hausnummer eingeben. Das Ganze war sehr benutzerfreundlich. Will tippte seinen Namen und sein Geburtsdatum ein, worauf ihm der Computer mitteilte: HDH. Schön, dachte er, bestätigt. Hoffentlich nicht auf die gleiche Weise HDH wie Mark Shackleton, trotzdem, er hatte noch mindestens achtzehn Jahre vor sich, ein ganzes Leben.
Die nächsten Eingaben fielen ihm nicht so leicht. Er zögerte. Vielleicht sollte er den Computer doch abschalten, aber dann hörte er noch mehr Sirenen und noch mehr Rufe aus dem Garten. Er atmete tief ein, dann tippte er: Laura Jean Piper, 7. 8. 1984 – Eingabetaste.
HDH.
Er stieß die Luft aus und murmelte fast lautlos: »Gott sei Dank.«
Dann atmete er wieder durch und tippte: Nancy Lipinski, White Plains, New York – Eingabetaste.
HDH.
Noch einer, um seinen Plan abzusichern: Jim Zeckendorf, Weston, Massachusetts.
HDH.
Das war alles, was ich wissen wollte, alles, was ich wissen musste, dachte Will. Er zitterte.
Während er noch dasaß und nachdachte, erschien ihm die Logik des Ganzen unwiderlegbar. Er, seine Tochter und Nancy würden überleben, trotz der Sicherheitskräfte, die den Auftrag hatten, sie zu töten, um das Geheimnis von Area 51 zu wahren. Das hieß, dass er etwas unternehmen würde, um ihren Tod zu verhindern. Es war Wahnsinn! Den freien Willen konnte man vergessen. Ab jetzt überlasse ich mich einfach dem Schicksal, dachte er. Ich bestimme ja sowieso nicht über mein Leben, bin nicht mein eigener Herr. Er weinte jetzt, und zwar zum ersten Mal seit dem Tag, an dem sein Vater gestorben war.
Während Rettungsmannschaften die Verletzten aus dem Bungalow in die bereitstehenden Krankenwagen brachten, saß Will am Schreibtisch von Zimmer 315 und schrieb einen Brief auf Hotelbriefpapier. Als er fertig war, las er ihn noch einmal durch. Er hatte eine Leerstelle in dem Text gelassen, die er noch ausfüllen musste, bevor er den Brief einwerfen konnte.
Der herrliche Samstagnachmittag in Beverly Hills wurde durch den Lärm und den Dieselgestank Dutzender Rettungswagen und Kleinbusse von Nachrichtensendern beeinträchtigt, deren Abgase den Sunset Boulevard entlangzogen. Will ging mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei und hielt ein Taxi an.
»Was, zum Teufel, ist da drin los?«, fragte ihn der Fahrer.
»Wenn ich das bloß wüsste«, antwortete Will.
»Wohin?«
»Bringen Sie mich zu einem Computerladen, zur öffentlichen Bibliothek von L.A. und zu einem Postamt. In dieser Reihenfolge. Das ist für Sie.« Er beugte sich über die Sitzlehne und ließ hundert Dollar in den Schoß des Fahrers fallen.
»Wird gemacht, Mister«, sagte der Taxifahrer begeistert.
Der Fahrer hielt vor einem Radio Shack an, und Will kaufte sich einen Memorystick. Sobald er wieder im Taxi saß, kopierte er Marks Datenbank auf den externen Speicher und steckte ihn in die
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