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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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glücklich, wenn er einen friedlichen Nachmittag allein in seinen Gemächern verbringen und sich seinen Büchern widmen konnte. Glück und Frieden indes waren ihm in letzter Zeit nur selten beschieden.
    Es drohte Unheil.
    Von tief unter der Erde.
    Baldwin sprach noch ein besonderes Gebet an Josephus und erhob sich dann, um seinen Prior zu einer dringenden Beratung aufzusuchen.
     
    Luke, der Sohn des Schuhmachers Archibald aus London, war der jüngste Mönch in Vectis. Er war ein kräftiger Zwanzigjähriger, dessen Statur eher an einen Soldaten denn an einen Diener Gottes denken ließ. Sein Vater war erstaunt und enttäuscht gewesen, als Luke den Dienst an Gott dem väterlichen Schusterhandwerk vorzog, aber er konnte seinen willensstarken Sohn ebenso wenig an der Umsetzung seines Entschlusses hindern, wie er verhindern konnte, dass Leder sich abnutzte. Als Halbwüchsiger war Luke unter den Einfluss eines liebenswürdigen Sprengelpriesters geraten, und seither wollte er nichts anderes mehr, als sein Leben Christus zu widmen.
    Die völlige Hingabe, die im Kloster verlangt wurde, sagte ihm besonders zu. Lange hatte er nur von den Gottesdienern der entlegenen Abtei Vectis reden hören, doch mit siebzehn Jahren schlug er sich zur Südspitze der Insel durch, nachdem er seine letzten Kupfermünzen für einen Platz auf einem Fährboot ausgegeben hatte. Während der Überfahrt betrachtete er die steilen, überhängenden Klippen der Insel, die bedrohlich vor ihm aufragten, und starrte ehrfürchtig auf den Turm der Kathedrale, der am Horizont wie ein steinerner Finger zum Himmel wies. Voller Inbrunst betete Luke darum, dass dies eine Reise ohne Wiederkehr sein möge.
    Nach einem langen Fußmarsch durch die fruchtbare Landschaft stellte er sich an dem mit einem Fallgitter bewehrten Tor vor und bat demütigst um Einlass. Prior Felix, ein kräftiger, dunkelhaariger Bretone, erkannte, dass es dem blonden Jungen ernst war, und nahm ihn auf. Nach vier arbeitsreichen Jahren als Oblate und danach als Laienbruder wurde Luke zum Priester im Dienste Gottes geweiht, und seither verspürte er jeden Tag eine tiefe Freude im Herzen. Mit seinem breiten Lächeln stimmte er seine Mitbrüder und Mitschwestern immer fröhlich, und manche machten gelegentlich sogar einen Umweg, damit sie einen kurzen Blick auf sein freundliches Antlitz werfen konnten.
    Wenige Tage nach seiner Ankunft in Vectis hörte Luke von älteren Novizen zum ersten Mal Gerüchte über die Krypten. Im Kloster gebe es eine geheime, unterirdische Welt, so hieß es. Seltsame Wesen hausten dort in der Tiefe, die seltsame Dinge taten. Gottlose Riten ausübten. Verderbtheiten. Angeblich existierte sogar eine Geheimgesellschaft, der Orden der Namen.
    Unsinn, hatte Luke gedacht, hinter alldem konnte nichts weiter stecken, nichts als eine Art Initiationsritus von jungen Männern mit blühender Phantasie. Er wollte sich auf seine Pflichten und seine Ausbildung konzentrieren und hatte nicht vor, sich auf solches Gerede einzulassen.
    Andererseits ließ sich nicht bestreiten, dass er und seine Gefährten zu manchen Gebäuden keinen Zutritt hatten. In einem abgelegenen Winkel des Klosters, hinter dem Friedhof für die Mönche, stand ein schlichter, schmuckloser Holzbau, etwa so groß wie eine kleine Kapelle, an den sich ein langes, niedriges Gebäude anschloss, das als Außenküche bezeichnet wurde. Neugierig war Luke ab und zu dort herumgeschlendert und hatte verstohlene Blicke auf das Treiben bei der Außenküche geworfen. Er hatte gesehen, wie Getreide, Gemüse, Fleisch und Milch angeliefert wurden. Er hatte die immer gleichen Brüder regelmäßig hineingehen und herauskommen sehen. Und mehr als einmal hatte er gesehen, wie junge Frauen in das kapellengroße Gebäude geführt wurden.
    Doch er war jung und unerfahren und gab sich damit zufrieden, dass er manche Dinge weder verstehen musste noch sollte. Er wollte sich nicht von seinem Gottvertrauen abbringen lassen, das mit jedem Tag, den er innerhalb der Klostermauern zubrachte, größer wurde.
     
    Lukes ausgeglichenes und friedliches Dasein fand an einem Herbsttag Ende Oktober ein jähes Ende. Der Vormittag war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm und sonnig gewesen, aber später, als ein Sturmtief die Insel streifte, wurde es kühl und regnerisch. Tief in religiöse Betrachtungen versunken, ging Luke über das Klostergelände; als unvermittelt der Wind auffrischte und die ersten Regentropfen fielen, lief er im Schutz der

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