Die Namen der Toten
Pistolenschüsse dagegen waren ohrenbetäubend laut, und Frazier zuckte bei jedem einzelnen Knall zusammen, achtzehn Mal, dann kehrte Stille ein.
In dem Zimmer hing stechend blauer Qualm und beißender Schießpulvergeruch. Will hörte eine blecherne Stimme hysterisch aus einem Headset brüllen, das neben seinem Träger lag.
Alles war voller Blut, dessen grelles Rot sich mit den Pastelltönen des Zimmers biss. Vier Eindringlinge lagen auf dem Boden, zwei stöhnten, zwei waren stumm. Will erhob sich auf die Knie und stand dann langsam und mit wackligen Beinen auf. Er spürte keinen Schmerz, wusste aber, dass man nach einem Adrenalinschock selbst schwere Verletzungen kaum wahrnahm. Er suchte sich nach Blut ab, doch offenbar fehlte ihm wirklich nichts. Dann sah er Marks Füße hinter dem Sofa hervorragen und rannte hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen.
Verflucht, dachte er, als er Marks ganzen Körper vor sich sah. Verflucht nochmal. In Marks Kopf klaffte ein Loch, aus dem Blut und Hirnmasse quollen, und er röchelte und sabberte Schleim und Rotz.
Er war HDH?
Will erschauerte beim Gedanken daran, dass der arme Mistkerl noch mindestens achtzehn Jahre lang in diesem Zustand weiterleben musste. Dann schnappte er sich Marks Aktenkoffer und rannte aus der Tür.
1. August 2009 – Los Angeles
Will versuchte sich so unauffällig wie möglich zu bewe gen. Leute rannten an ihm vorbei in Richtung Bungalow. Zwei Männer vom Sicherheitsdienst des Hotels sprinteten ihm mit wehenden Jacken entgegen und drängten ihn fast vom Fußweg. Er ging langsam, als interessiere ihn die ganze Aufregung nicht, durch den Hotelgarten in die andere Richtung, ein Mann mit einem Aktenkoffer, dem man seine Anspannung nicht ansah.
Während sich die Tür zum Hauptgebäude hinter ihm schloss, hörte er gedämpfte Rufe aus der Umgebung des Bungalows. Gleich würde hier die Hölle los sein. Schon näherte sich Sirenengeheul. Tja, in so einer Nobelgegend reagiert die Polizei schnell, dachte er. Er musste sich rasch entscheiden. Entweder versuchte er sich zu seinem Auto durchzuschlagen, oder er blieb und versteckte sich hier. Diese Taktik hatte in dem Friseursalon funktioniert, also beschloss er, sie nochmal auszuprobieren.
An der Rezeption herrschte Chaos. Gäste meldeten Schüsse, Sicherheitsmaßnahmen wurden veranlasst. Will lief mit entschlossenen Schritten an überlasteten Angestellten vorbei zu den Aufzügen, stieg in den erstbesten ein und drückte aufs Geratewohl den Knopf für den dritten Stock.
Der Flur war leer, abgesehen von einem Wäschewagen, der vor einem Zimmer etwa in der Mitte des Gangs stand. Will warf einen Blick durch die halboffene Tür des Zimmers 315 und sah ein Zimmermädchen beim Staubsaugen.
»Hallo!«, rief er, so gut gelaunt er konnte.
Das Mädchen lächelte ihn an. »Hallo, Sir. Ich bin gleich fertig.« Er bemerkte zwei Reisetaschen und Männerkleidung im Schrank.
»Ich komme früher von einer Besprechung zurück«, sagte Will. »Ich muss ein Telefonat führen.«
»Kein Problem, Sir. Rufen Sie einfach den Zimmerservice, wenn Sie noch etwas brauchen, dann komme ich zurück.«
Dann war er allein.
Er sah aus dem Fenster in den Garten hinunter. Polizisten und Sanitäter liefen einen Weg entlang. Will ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken und schloss die Augen. Er wusste nicht, wie viel Zeit er hatte – und er musste nachdenken.
Er war wieder auf dem Fischerboot, mit seinem Vater Phillip Weston Piper, der schweigend einen Köder aufzog. Will fand diesen Namen immer etwas großspurig für einen Mann mit rauen Händen und sonnenverbrannter Haut, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dass er Betrunkene festnahm und Rasern einen Strafzettel verpasste. Wills Großvater hatte in einer Aufbauschule in Pensacola Soziologie unterrichtet und große Hoffnungen in seinen Sohn gesetzt. Vermutlich hatte er gedacht, ein vornehmer Name würde ihm in der Welt weiterhelfen. Aber der Name hatte nichts genutzt. Wills Vater wurde ein Versager und Säufer, ein elender Tyrann, der Wills Mutter das Leben zur Hölle machte.
Trotzdem war er ein halbwegs anständiger Vater gewesen, zwar überaus wortkarg, aber Will hatte das Gefühl, dass er darum bemüht war, für seinen Sohn alles richtig zu machen. Vielleicht hätten sie eine bessere Beziehung gehabt, wenn Will gewusst hätte, dass sein Vater sterben würde, während er selbst noch aufs College ging. Vielleicht hätte er dann den ersten Schritt getan, ein Gespräch angefangen,
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