Die Narbe
ausmalen, was hier passiert wäre, wenn ich alleine mit Lutz geblieben wäre.« In diesem Moment, als wäre er beim Hören seines Namens aufgewacht, begann Lutz zu stöhnen. Seine Augen waren noch geschlossen.
»Wir haben nur unseren Job gemacht. Wir sollten das Paket zu meinen Füßen jetzt aber mitnehmen, bevor es sich zu regen beginnt. Wir werden wegen Ihrer Zeugenaussage noch Kontakt mit Ihnen aufnehmen«, sagte Batzko und umfasste mit seiner linken Hand den Kragen von Lutz’ Jacke.
»Kommen Sie klar?«, fragte Gerald. »Soll ich noch ein paar Minuten bei Ihnen bleiben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht mir gut. Ich weiß genau, was ich zu tun habe. Und ich danke Ihnen für das, was Sie für mich getan haben. Aber jetzt würde ich gerne allein sein.«
»Sind Sie sicher?«, hakte Gerald nach.
»Ich bin vollkommen sicher«, antwortete sie.
Bevor Gerald hinter Batzko und Lutz die Wohnung verließ, wollte er die Hand auf ihre Schulter legen. Aber sie wich vor ihm zurück.
Als Gerald am späten Abend seine Wohnungstür aufschloss, hörte er kein Geräusch in der Wohnung. Vorsichtig betrat er die Diele. Sofort spürte er, dass etwas anders war. Dass die Wohnung verlassen war, dass niemand mehr in ihr atmete. Natürlich, der Kinderwagen hatte nicht im Hausflur gestanden. Neles Jacke und Regenmantel hingen nicht an der Garderobe. Gerald ging in die Küche und sah ein Blatt Papier auf dem Tisch.
Gerald,
es ist nicht nur deine Affäre. (Eigentlich hasse ich diesen Ausdruck; er klingt so, als hätte man den Fußboden schnell abgewischt, nachdem jemand daraufgekotzt hat, und alles ist danach wieder wie früher.) Aber mir ist jetzt egal, wie man das nennt. Wichtiger ist, was ich dadurch verstanden habe. Dass du nämlich gar kein Kind, keine Familie haben willst, zumindest nicht in dem Sinn, wie ich es verstehe. Du willst deinen regelmäßigen Sex, deinen Job, dein Schwimmbad usw. und dazu eben ein Baby, das gefälligst nicht zu nerven hat. Du willst nicht, dass alles anders wird, aber das wird es eben mit einem Baby.
Das ist keine Basis für mich. Ich gehe erst mal zu meinen Eltern. Ich will nicht, dass du mich anrufst oder mir schreibst. Ich will keine Entschuldigung und kein Ich-werde-mich-bessern. Ich will selbst entscheiden, ob und wann ich mich melde.
N.
Auf dem Tisch stand eine angebrochene Tüte Milchpulver. In der Spüle ein Topf mit den Resten angebrannter Milch. Nele hatte natürlich für die mehrstündige Zugfahrt vorsorgen wollen.
Im Bad und im Schlafzimmer die klassischen Spuren eines plötzlichen Aufbruchs (herausgezogene Schubladen, Kleidung auf dem Boden, in der Badewanne eine benutzte Pampers, im Waschbecken Geralds Zahnbürste). Auf dem Schreibtisch der Block, auf dem sie ihren Abschiedsbrief geschrieben hatte. Zwei Papierknäuel, offensichtlich die Vorfassungen, lagen auf dem Boden, neben dem Papierkorb. Gerald widerstand der Versuchung, sie zu lesen. Er musste plötzlich lächeln: Wie wäre es, wenn ich Spurenermittler Brenner anriefe, damit er den Tatort professionell erfasst? Versuchte Ermordung einer Familie, war das nicht auch strafbar?
Was jetzt? Gerald, der nie eine Freundin verlassen hatte, aber wiederholt verlassen worden war, konnte das alles nicht begreifen. Als wäre es unwirklich, als wäre er zufällig in ein Filmstudio geraten, in dem ein Ehedrama gedreht wurde. Moment mal, er war ja an diesem Tag streng genommen von zwei Frauen verlassen worden. Das musste ihm erst einmal jemand nachmachen.
Er dachte daran, im Wohnzimmer den Whiskey zu holen, aber selbst dazu fühlte er sich zu müde. Stattdessen ließ er sich aufs Bett fallen. Neben seiner rechten Wange, zur Hälfte auf dem Kopfkissen, lag ein Strumpf, Neles Strumpf. Er ließ ihn liegen.
Vermutlich lag Nele mittlerweile längst im Bett, neben Severin. Ihre Eltern, die ihn, so bildete er sich zumindest ein, nie wirklich gemocht hatten, würden im Wohnzimmer nebeneinander auf dem Sofa sitzen, ihr Vater an seiner Pfeife nuckeln, und sie würden beratschlagen, wie sie ihrer Tochter am besten helfen konnten.
An seine eigene Mutter wagte Gerald gar nicht erst zu denken. Es kam ihm so vor, als ob die letzten Monate, so hart sie auch waren, ein Zuckerschlecken waren gegen das, was ihm jetzt bevorstand. Gerald fühlte sich mit einem Schlag hundeelend.
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