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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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suchten sich lediglich eine aussichtsreiche Position auf der anderen Straßenseite. Das Recht auf Gaffen, dachte Gerald resigniert, gehört für sie zu den heiligen demokratischen Grundrechten. Er erinnerte sich an seine Anfangsjahre, als er im Streifendienst mit der Anmaßung und der Aggression der Schaulustigen konfrontiert worden war, und allein der Gedanke daran ließ ihn die Hand zur Faust ballen. Es stimmte nicht, dass ihm annähernd zwei Dienstjahrzehnte Gelassenheit verliehen hatten. Er hatte lediglich gelernt, sich besser im Griff zu haben.
    Einer der Gaffer verließ, nachdem er streng dazu aufgefordert worden war, zögerlich den Schauplatz und gab den Blick frei auf einen Blutfleck auf der Straße, dicht am Bürgersteig. Er war noch nicht eingetrocknet. Gerald machte zwei Schritte nach vorne. Ein jüngerer Kollege wickelte gerade das rot-weiße Flatterband mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung« um einen Laternenpfahl. Gerald trat auf ihn zu. Der Polizist erkannte ihn und fragte leicht überrascht: »Haben Sie Bereitschaft?«
    »Nein. Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen.«
    »Verstehe. Und? Fest entschlossen, sich den freien Abend versauen zu lassen?«
    Gerald van Loren zuckte die Achseln. »Tja, offenbar ist es mein Schicksal, mir beim Spazierengehen ausgerechnet die Straße auszusuchen, in der ich meine Kollegen treffe. Und jetzt, wo ich schon mal da bin …«
    »Wollen Sie unbedingt wissen, was hier passiert ist?«
    »Ja.«
    »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass ein junger Mann vom Balkon der Dachgeschosswohnung gestürzt ist. Ein Passant hatte einen Schrei gehört, aber nur noch gesehen, wie der Mann auf der Straße aufgeschlagen ist. Mehr wissen vielleicht die Kollegen, die schon im Haus sind.
    »Ist die Spurenermittlung informiert?«
    Der Polizist nickte. »Die sind gerade noch bei einem Einbruch am anderen Ende der Stadt im Einsatz. Aber zwei Kollegen sind schon vor Ort und sichern die Wohnung ab.«
    Gerald schaute nach oben. Der Balkon lag im vierten Stock. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte niemand überleben, selbst wenn zwei Schutzengel mitgeflogen wären. Sein Blick schweifte zu den Nachbarhäusern. In seiner Schulzeit, fiel Gerald ein, hatte eine Freundin, die früh von zu Hause ausgezogen war, hier irgendwo in dieser Straße für achtzig Mark im Monat zwei Zimmer angemietet, ohne Bad und Küche; die Gemeinschaftstoilette hatte sich im Zwischengeschoss befunden. Es waren die Jahre gewesen, in denen er kein Mädchen zu sich nach Hause hatte einladen können, ohne dass seine Mutter alle zehn Minuten an die Zimmertür geklopft hätte, um zu fragen, ob noch eine Tasse Tee oder Plätzchen gewünscht würden. Die eigene Wohnung hatte sie, ein farbloses, unattraktives Mädchen, in ein Objekt der Begierde verwandelt. Gerald hatte mit ihr die ersten harmlosen sexuellen Erfahrungen gemacht, während gleich mehrere Klassenkameraden sich gebrüstet hatten, sie entjungfert zu haben.
    Dieses Haus jedoch war renoviert worden. Die Fassade verputzt, die Fenster erneuert, das Dachgeschoss ausgebaut mit drei kleinen Balkons.
    »Es war der Krüppel. Als ob ich es geahnt hätte, dass er es eines Tages tun würde«, hörte er eine Stimme in seinem Rücken. Gerald drehte sich um und hätte die Frau beinahe zur Seite gestoßen, so dicht stand sie hinter ihm. Auch eine von denen, dachte er, für die das Grundrecht auf freie Information das Belauschen von Dienstgesprächen einschließt. Die Frau war um die fünfzig und trug einen Haushaltskittel über einer dunkelblauen Trainingshose. Die Hausschuhe wiesen darauf hin, dass sie in der Nachbarschaft wohnte. Der Blick, mit dem sie Gerald fixierte, gierte geradezu danach, der Polizei ihr Wissen anzudienen. Den Gefallen werde ich ihr nicht tun, dachte Gerald genervt und bedeutete dem Polizisten mit einer Kopfbewegung, sich ein paar Schritte zu entfernen.
    »Was meint sie?«, fragte er leise.
    »Ich weiß nicht genau. Ich habe nur gesehen, dass das Hemd des jungen Mannes auf der linken Seite bis zum Ellbogen hochgekrempelt und mit einer Sicherheitsnadel fixiert war. Irgendetwas war komisch an ihm. Aber ich habe nichts Genaues erkennen können. Der Notarzt war auch gleich da.«
    »Was meinen Sie mit ›komisch‹?«
    »Wie gesagt: Ich konnte nichts Genaues erkennen. Nur die Sicherheitsnadel erschien mir etwas merkwürdig.«
    Gerald ging über die Straße und schaute hinauf zu den Balkons, aber auch von diesem Punkt aus konnte man schwerlich sehen, was sich dort

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